
Viele Werke haben Geschichte gemacht, obwohl ihre Premiere beim Publikum durchgefallen war. Für die Oper „Der Freischütz“ gilt das Gegenteil: Ihre Uraufführung am 18. Juni 1821 im Königlichen Schauspielhaus in Berlin war ein ungewöhnlicher Erfolg, bei 14 von 17 Musikstücken gab es lauten Applaus, beim Lied der Brautjungfern und bei der Ouvertüre wurde lautstark „da capo“ (Wiederholung) gefordert. Das notierte der Komponist, Carl Maria von Weber, in seinem Tagebuch.
Die Kritiker waren ebenso begeistert wie das einfache Volk: Ein knappes Jahr später im März schrieb Heinrich Heine in einem Brief, dass man dem Brautlied „Wir winden dir den Jungfernkranz“ nicht entkommen könne, es werde überall geträllert „…und selbst von Hunden gebellt“.
Die Eutiner haben den in ihrer Stadt geborenen Komponisten immer sehr verehrt, obwohl seine Eltern kurz nach der Geburt im November 1786 wieder weggezogen waren. Webers Gastspiele in Eutin 1810 und 1820 wurden gefeiert, und beim zweiten Aufenthalt in seiner Geburtsstadt soll er schon Stücke aus „Der Freischütz“ gespielt haben.
Mit dem unbestritten bekanntesten Werk des Komponisten war das Genre der „Deutschen Oper“ geschaffen, während es bis dahin als Definition nur italienische und französische Opern gab. Und „Der Freischütz“ wurde 1951 im Rahmen eines Gedenkprogrammes zu seinem 125. Todestag unter freiem Himmel im Schlossgarten aufgeführt.
Wie schon bei der Premiere 1821 in Berlin war auch diese Inszenierung mit einfachen Mitteln mit einem Hügel als natürlicher Bühne ein unerwarteter Erfolg.[nbsp] Die Nachfrage war so groß, dass in allen kommenden Jahren die sogenannten „Eutiner Sommerspiele“ weitergeführt und zur 50. Spielzeit im Jahr 2000 in Eutiner Festspiele umbenannt wurden.
„Der Freischütz“ blieb das wichtigste aller Werke im Programm, in 43 Jahren stand es auf dem Spielplan, mehr als 200 Mal wurde die Bühne am Großen Eutiner See zur Wolfsschlucht. 2016 war bislang die letzte Aufführung in Eutin. Nach der Fertigstellung einer neuen Tribüne im Jahr 2024 war nichts naheliegender, als die Oper wieder aufzuführen. Premiere ist am 19. Juli 2024.
Die von Erzählungen und Märchen des Barocks und der Romantik inspirierte Handlung der Oper dreht sich im Kern um einen verzweifelten Menschen, der zu einem Pakt mit dem Teufel bereit ist. Am Ende siegt die Macht der Liebe über das Böse.
Der Jägersbursche Max muss für die Erbförsterei und die Hand der Försterstochter Agathe ausreichende Treffsicherheit mit dem Gewehr beweisen. Angesichts einer Pechsträhne lässt er sich von seinem Kollegen Kaspar dazu überreden, nachts in der Wolfsschlucht Freikugeln zu gießen. Diese treffen jedes Ziel, doch sie werden vom Teufel persönlich gelenkt. Die Wolfsschlucht-Szenen auf der Eutiner Bühne im Schlossgarten haben sich über Jahrzehnte hinweg einen legendären Ruf erworben.
Die Festspiele haben für die Neuinszenierung im Jahr 2024 zwei Männer verpflichtet, die eine Fortsetzung der erfolgreichen Geschichte dieses Werks auf dem grünen Hügel in Eutin garantieren: Den Regisseur Anthony Pilavachi und den Musikalischen Leiter Leslie Suganandarajah.
Anthony Pilavachi ist in Zypern geboren, in Frankreich aufgewachsen und irischer Staatsbürger. Er hat an der Guildhall School of Music and Drama in London studiert. Seit 1987 ist er vorwiegend an Opernhäusern in Deutschland tätig, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern sowie in Taiwan, USA und Südamerika hat er gearbeitet. Für seine »Capriccio«-Inszenierung gewann Pilavachi 2018 den Österreichischen Musiktheaterpreis für die Beste Opernproduktion.
Die Liste der Stücke, die Pilavachi inszeniert hat, ist ebenso umfangreich wie die Orte, an denen er engagiert war und spannen einen weiten Bogen von der Klassik bis in die Moderne. Besonders häufig war er mit bislang 20 Inszenierungen in Lübeck tätig.
Leslie Suganandarajah ist seit 2019 Musikdirektor am Salzburger Landestheater. Er wurde 1983 in Sri Lanka geboren und kam im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Suganandarajah erhielt in der Kindheit Klavier-, Querflöten- und Orgelunterricht, studierte an den Musikhochschulen in Hannover, Lübeck und Weimar.
2012 wurde er 2. Kapellmeister, drei Jahre später 1. Kapellmeister am Theater Koblenz [nbsp]und in der selben Funktion 2017 am Landestheater Linz. Seit der Spielzeit 2019/2020 ist er Musikdirektor am Salzburger Landestheater, wo er mit Wagners „Lohengrin“ in der Felsenreitschule seinen Einstand gab.
Handlung
1. Akt:
Das Wettschießen ist beendet. Der Bauer Kilian hat gewonnen. Max, der zweite Jägerbursche, hat wieder einmal versagt und wird von den Dorfbewohnern derb verspottet. Nicht nur seine Reputation steht auf dem Spiel: Sollte er auch den anberaumten Probeschuss nicht bestehen, geraten die Hochzeit mit Agathe, der Tochter des Försters Kuno, und damit auch seine berufliche Zukunft in Gefahr. Denn nur, wer den Probeschuss besteht, kann Erbförster werden.
Das Wettschießen geht auf eine alte Geschichte zurück, bei der eine „Freikugel“ mit Zauberkraft verwendet worden sein soll. Kaspar, der erste Jägerbursche, hat seiner Meinung nach viel eher das Recht auf Agathe und die Nachfolge ihres Vaters. Doch er hat sich, bevor er in den Krieg ziehen musste, ihr gegenüber nicht korrekt verhalten. Möglicherweise ist Agathe nicht mehr Jungfrau, und sie will nichts mehr von ihm wissen. Kuno hat Kaspar verboten, mit Max zu reden, doch Kaspar sinnt auf Rache und biedert sich dem Kollegen als Freund an, spielt in Wahrheit aber ein böses Spiel.
Max lässt sich dazu überreden, mit dem Gewehr von Kaspar auf einen weit entfernten Vogel zu zielen. Herab fällt ein imposanter Steinadler. Kaspar behauptet, dies sei der letzten seiner Freikugeln zu verdanken, es müssten nun neue gegossen werden. Was er verschweigt: Um in den Besitz der Freikugeln zu gelangen, hatte sich Kaspar dem Teufel - Samiel - verschrieben. Er will Samiel ein Opfer bringen, um seine Seele zu retten. Unter dem Vorwand, ihm beim Guss der Freikugeln zu helfen, lockt er Max um Mitternacht in die Wolfsschlucht, ein Ort, in dem Leichen von Verbrechern begraben werden.
2. Akt:
Im Förster haus ist das Porträt Kunos von der Wand gefallen und hat Agathe verletzt. Ärmchen, eine junge Verwandte, hängt es wieder auf und zerstreut Agathes dunkle Vorahnungen, die sie durch den Vorfall hegt. Doch Agathes Heiterkeit ist nur von kurzer Dauer. Max kommt zu spät und statt des Siegerpokals bringt er vom Wettschießen Adler-federn mit. Da erfährt er, dass das Bild des Försters just zu dem Zeitpunkt herabgefallen war, als er den Adler schoss. Erschrocken und überstürzt verabschiedet er sich unter dem Vorwand, einen erlegten Hirsch aus der Wolfsschlucht holen zu müssen.
Dort hat Kaspar alles für den Guss der Freikugeln vorbereitet. Er hat Samiel beschworen, Max an seiner Stelle als Opfer anzunehmen und mit der siebten Freikugel Agathe zu töten. Samiel akzeptiert. Als Max sichtlich verstört auftaucht, beginnt Kaspar mit dem Guss der Kugeln. Der Wald rings um die Wolfsschlucht füllt sich mit geisterhaften Erscheinungen, die immer bedrohlicher werden, und Samiel erscheint. Die Uhr schlägt Eins ...
3. Akt:
Max und Kaspar probieren abwechselnd die Kugeln aus, sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Um sicherzustellen, dass Max die siebte Kugel nutzt, die Agathe töten soll, verbraucht Kaspar heimlich seine letzte Kugel.
Derweil betet Agathe in ihrem Zimmer, will damit die Albträume verdrängen, die sie in der Nacht plagten, während Max in der Wolfsschlucht war: In den wirren Träumen verwandelte sie sich in eine weiße Taube, die von Max abgeschossen wird. Dann war sie wieder sie selbst und die Taube stellte sich als schwarzer Raubvogel heraus. Ännchen versucht, Agathe auf fröhliche Gedanken zu bringen. Die Brautjungfern erscheinen und singen ihr Brautlied. Ännchen bringt eine Schachtel herein, doch die enthält statt eines Brautgebindes einen Grabkranz ...
Zum Probeschuss des Kandidaten erscheinen Fürst Ottokar und sein Gefolge. Der Fürst stellt Max die Aufgabe, eine weiße Taube von einem Baum zu schießen.
Zuvor hat er ihn aufgefordert, drei Mal zu schießen und dabei den Beweis zu erbringen, dass er ein guter Schütze ist. Dadurch gerät Max in Panik, weil er unsicher ist, die wievielte Freikugel in seinem Gewehr steckt. Max zielt auf die Taube, doch die Kugel trifft Ka spar, der sich in einem Baum versteckt hat. Zum Entsetzen Ottokars und der Jäger erklärt der Eremit die Tradition des Probeschusses für alle Zeit beendet. Max soll nach einem Jahr Wartezeit Agathe heiraten dürfen.
Matthias Gerschwitz | Achim Krauskopf
DER MISSVERSTANDENE NATIONALIST
„Wer kein Vaterland hat, erfinde sich Eins. Die Deutschen haben es versucht auf allerley Weise, sie haben es mit deutschen Röcken, mit den Nibelungen, mit der deutschen Malerschule versucht, und seit dem Freyschützen thun sie es auch mit der Musik. Sie wollen einen Hut haben, unter den man alle deutsche Köpfe bringe.“
Ludwig Börne, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker, geht 1822 aus Anlass einer Freischütz-Aufführung in Stuttgart hart ins Gericht mit all jenen, die in Carl Maria von Webers Werk die erste deutsche Nationaloper sehen. „Die Nation blickt auf ihn mit Stolz und Freude „, zitiert er einen ungenannten Kommentatoren, der den in Eutin geborenen Komponisten hochleben lässt. Da kann man es schon deutlich hören, dieses „Wir sind wieder wer“, das sich fortan zum Motto des deutschen Denkens bei den verschiedensten passenden und unpassenden Gelegenheiten mausern wird.
1821, als der Freischütz uraufgeführt wird, gibt es noch gar keine deutsche Nation. Aber die 1815 siegreich zu Ende gegangenen Befreiungskriege, in denen sich diverse deutsche Königreiche mit Hilfe anderer Armeen vom Joch der napoleonischen Unterdrückung befreit hatten, gelten als Ursprung des deutschen Nationalismus, der sich im 19. und 20.Jahrhundert breit macht. Endlich hatte man in Frankreich einen gemeinsamen Feind gefunden. Musikalisch jedoch steht der Feind weiter südlich. Die Hegemonie der italienischen Oper gilt es zu brechen. Die Oper, deren ungekrönter König Gioachino Rossini heißt. Er kann 1821 schon auf mehr als 3 0 Werke zurückblicken, obwohl er erst zehn Jahre nach Webers erstem Werk Die Macht der Liebe und des Weins (München 1798, gilt als verschollen) mit dem Komponieren begonnen hat. Mit dem Freischütz aber katapultiert Weber die deutsche Oper in die erste Liga.
Das hatte zuvor schon einmal ein deutscher Komponist versucht. Gegen den Willen der italienischen Fraktion am Wiener Hof hatte Wolfgang Amadeus Mozart 1782 seine Entführung aus dem Serail in deutscher Sprache vertont. Aber es war ihm damit kein nachhaltiger Erfolg beschieden, so dass er sich im Folgenden wieder der italienischen Sprache bediente.
Erst mit der Zauberflöte gelang es ihm 1791, die deutsche Sprache opernsalonfähig zu machen. Es muss in der Familie gelegen haben, war Mozart doch mit Webers Cousine Constanze verheiratet.
Warum aber gilt Carl Maria von Weber als der „deutscheste aller Musiker“, wie ihn Richard Wagner bezeichnet hat? „Welch' ein ohrenzerreißendes Jubelgeschrey haben sie nicht über diesen Freyschützen erhoben, blos weil es ein deutsches Werk ist“, echauffiert sich Börne. Ist es der deutsche Wald, der im Gegensatz zu den vom Kriege gebrochenen Menschen in strammer Reih' und Glied als Sinnbild der (preußischen) Ordnung steht? „Von Wien aus melden sie“, fährt Börne fort, „der Freyschütz habe einen Enthusiasmus hervorgebracht, der bey jeder Wiederholung gleich der ins Thal rollenden Lawine sich vergrößert.“ Wo soll das noch hinführen?
Börne kennt darauf nur eine Antwort und die formuliert er als Frage: „Kann es Weber schmeicheln, wenn man ihn am meisten wegen seiner geographischen Verdienste lobt?“ Schon sind wir mittendrin in der schönsten Patriotismus-Diskussion. Ist die Herkunft ein Verdienst, auf das man stolz sein kann?
Goethe, Schiller, Mozart oder Weber können sich nicht mehr dagegen wehren, wenn sie heute von den falschen Leuten vereinnahmt werden. Dabei wird von jenen, die Deutschsein zur Lebensleistung erklären wollen, eins gerne vergessen: Es sind ja gerade diese Deutschen, die mit ihrem Gesamtwerk beweisen, dass sie über jeden Nationalismus, über jeden Patriotismus erhaben sind.
Was aber ist so deutsch an Webers Oper? Es ist hauptsächlich natürlich die Musik. Auch, wer den Freischütz noch nie bewusst gehört hat, wird Melodien oder zumindest Versatzstücke wiedererkennen und dabei muss es noch nicht einmal das Lied der Brautjungfern sein. Heinrich Heine hatte mit Wir winden dir den Jungfernkranz noch Probleme, weil das Lied als Gassenhauer an jeder Ecke zu hören war, heute jedoch gilt es als Volkslied.
Auch der Jägerchor gehört zu den typisch deutschen Elementen, gibt es doch kaum ein Land, in dem so viele Menschen einen Jagdschein besitzen. Gegenüber England, wo die Jagd eher der „upper class“ vorbehalten ist, gilt Jagen in Deutschland beinahe als volkstümlicher Sport: fast 400.000 Frauen und Männer besitzen aktuell eine Lizenz zur Pirsch. Bezogen auf die Bevölkerung liegt übrigens Schleswig- Holstein vorne: Auf 1000 Einwohner kommen statistisch 8,1 Jäger.
Warum aber versuchte Richard Wagner, Carl Maria von Weber zum Nationalisten zu stilisieren? Weber darf als großes Vorbild des gebürtigen Leipzigers und späteren Bayreuthers gelten. Der Überlieferung nach zog schon die Ouvertüre des Freischütz' den jungen Wagner derart in ihren Bann, dass er darauf drang, das Klavierspiel zu erlernen.
Auch später hat Wagner in seinem Verständnis des Wesens und Ursprungs der Musik selbst immer wieder eine tiefe musikalische Verwandtschaft zu Weber durchblicken lassen. Nur den Nationalismus, den hat ihm Weber nicht bieten können.
Den musste Wagner dem Älteren während der Trauerrede zur Übersiedelung der sterblichen Überreste Webers von London nach Dresden andichten: „Nie hat ein deutscherer Musiker gelebt, als Du! Wohin Dich auch Dein Genius trug, in welches ferne, bodenlose Reich der Phantasie, immer doch blieb er mit jenen tausend zarten Fasern an dieses deutsche Volkesherz gekettet.“ So konnte Wagner seine Ideologie vor sich selbst und der Umgebung rechtfertigen. Weber dagegen hätte Max darauf antworten lassen, der im Freischütz seinen Kontrahenten Kaspar fragt: „ Wie kannst du mir zumuten, in so etwas einzustimmen?“
Matthias Gerschwitz
IM SCHATTEN DES KOMPONISTEN
„Was wäre Maria ohne Kind?“ Mit diesem Stoßseufzer beklagt der Schriftsteller Johann Friedrich Kind seinen seiner Meinung nach viel zu wenig gewürdigten Anteil am Erfolg des Freischütz. Schon direkt nach der Uraufführung 1821 loben Presse und Öffentlichkeit nur den Komponisten. Das Libretto aber sei, so wird wenig freundlich kommentiert, etwas betulich und bieder. Und so gerät einer der beiden Väter des „Freischütz“ fast vollständig in Vergessenheit.
Carl Maria von Weber wird im November 1786 in Eutin geboren. Der Knabe kränkelt und leidet an einer Fehlbildung der Hüfte. Es ist überliefert, dass er früher singen und Klavier spielen kann als laufen. Sein Vater, der das Adelsprädikat „von“ eigentlich unberechtigt auf eine bereits ausgestorbene Seitenlinie der Familie zurückführt, will ihn zu einem Wunderkind machen und nennt ihn in einem Brief 1799 einen kleinen Mozart. Der große Mozart war ja immerhin mit einer Cousine Carl Marias verheiratet gewesen. Die erste erhaltene Oper des 14-jährigen, Das Waldmädchen, bleibt allerdings ohne Erfolg. Dafür wird er nur drei Jahre später Kapellmeister am Breslauer Theater.
1805 verlässt Weber das Theater, lebt in Karlsruhe und Stuttgart und wird 1810 hochverschuldet aus Württemberg ausgewiesen. Er arbeitet an unterschiedlichen Orten als freischaffender Pianist, Dirigent und Komponist. Bald tritt er dem „Harmonischen Bund“ bei, der sich die gegenseitige Unterstützung von Werken und Wertungen der Mitglieder zur Aufgabe gemacht hat. Auch wenn der Bund nicht lange existiert, bleiben die Mitglieder auch später noch bei der Anrede Bruder - so wie Kasper im Freischütz einmal auch Max nennt. Im „Harmonischen Bund“ lernt Weber den Komponisten und Kapellmeister Johann Gänsbacher kennen, dem er nach der Uraufführung seiner Oper Abu Hassan 1811 in München schreibt: „Ich warte nun mit Schmerzen auf einen guten neuen Operntext, denn wenn ich keine Oper unter den Fäusten habe, ist mir nicht wohl.“ 1) Doch es soll noch zehn Jahre dauern, bis er wieder Premierenluft schnuppern kann.
1) Gustav Thormälius: „Der Freischütz. Ein Gedenkblatt zur 100. Wiederkehr der Uraufführung“ in: Daheim-Kalender für das Deutsche Reich auf das Jahr 1920, S. 130, Delhagen e-Klasing Bielefeld
Auf einer Reise von Prag nach Berlin lernt Weber im Oktober 1816 in Dresden den Schriftsteller Johann Friedrich Kind kennen und kann ihn für eine Zusammenarbeit gewinnen. Ein Sujet ist schnell gefunden: Die Erzählung Der Freischütz aus dem Gespensterbuch von August Apel. Die Oper soll Der Probeschuss heißen. Nach einer Reihe von Änderungen braucht Johann Friedrich Kind für das endgültige Textbuch nur zehn Tage.
Weber schreibt begeistert an seine Verlobte, die Sängerin und Schauspielerin Caroline Brandt: „Stelle Dir vor, Kind ist schon mit der ganzen Oper fertig. Es hat ihm keine Ruhe gelassen; er war so erfüllt von seinem Stoffe, dass er alles liegen ließ und Tag und Nacht arbeitete. Sie ist abermals umgetauft worden und heißt nun Die Jägersbraut. Ich hoffe, es soll von großer Wirkung sein. Es ist viel Abwechslung drin und Gelegenheit, den größten scenischen Apparat von Decorationen etc. anzubringen, doch auch so, dass man sie überall geben kann, im Ganzen ist aber der Charakter schauerlich.“ 2)
Bertolt Brecht kommentiert die Dramatik des Stückes später mit dem lakonischen Satz: „Das Ganze schließt freudig.“ 3)
2) „Carl Maria von Weber und sein Textdichter Friedrich Kind“, Dr. Adolph Kolmt in „Neue Zeitschrift für Musik“, Leipzig 1912
3) Karl Dietrich Gräwe: „Das Ganze schließt freudig“, in: Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Texte, Materialien, Kommentare. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1980
Johann August Apel (1771 - 1816) war Jurist und Schriftsteller.
Nach einem Aufenthalt in Prag wird Weber 1817 zum Königlichen Kapellmeister und Direktor der Deutschen Oper am Dresdner Hoftheater berufen. Obwohl der Hof die italienische Oper bevorzugt, kann sich der Deutsche durchsetzen. Im selben Jahr heiratet er seine Verlobte, die entscheidenden Einfluss auf den Beginn des Freischütz nimmt. Sie schlägt vor, den ersten Akt im Getümmel vor der Waldschänke beginnen zu lassen und auf das von Kind vorgesehene zusammentreffen des Eremiten und Agathe zu verzichten.
Am 13. Mai 1820 ist die Oper fertig; sie wird auf Anraten des Grafen zu Brühl in Der Freischütz umbenannt und am 18. Juni 1821 am Königlichen Schauspielhaus zu Berlin uraufgeführt. Für Weber wird sie zu einem triumphalen Erfolg, das Libretto hingegen wird kaum wahrgenommen. Kind ist von Eifersüchteleien gepeinigt. Zudem fühlt er sich finanziell benachteiligt. Er zieht sich gekränkt zurück und bricht den Kontakt ab.
Als Weber im Januar 1826 nach London zur Premiere seiner Oper Oberon reist, ist er bereits an Tuberkulose erkrankt.
In der englischen Hauptstadt verschlechtert sich sein Gesundheitszustand zusehends. Sein behandelnder Arzt ist Dr. Kind, ein Neffe des Freischütz- Librettisten, der sich 1825 in London niedergelassen hatte. Doch auch er kann nichts mehr ausrichten. Weber stirbt am 5. Juni 1826 und wird an Ort und Stelle beigesetzt. Erst 1844 werden seine sterblichen Überreste nach Dresden überführt und finden ihre letzte Ruhe im Familiengrab auf dem Alten Katholischen Friedhof.
Weber, der als Kapellmeister viele Werke anderer Komponisten aufgeführt und ihnen damit seine Reverenz erwiesen hat, gehört unzweifelhaft zu den Menschen, die in einem zersplitterten Land und einem uneinigen Europa die Werte der Toleranz und Gerechtigkeit vorgelebt haben. 1990 wird ein Asteroid nach ihm benannt, 1991 eine Bucht einer antarktischen Insel. 1951, in Webers 125. Todesjahr, finden zum ersten Mal die Eutiner Festspiele statt, die nicht nur, aber auch des großen Sohnes der Stadt gedenken. 2024 kehrt Weber mit dem Freischütz endlich wieder zurück nach Eutin.
Johann Friedrich Kind
Johann Friedrich Kind erblickt im März 1768 in Leipzig das Licht der Welt. Der Sohn eines Richters und Ratsherrn besucht die Thomasschule, die älteste öffentliche Schule Deutschlands und eine Wirkungsstätte Johann Sebastian Bachs. Einer seiner Mitschüler ist August Apel, der zwischen 1810 und 1818 Autor und Mitherausgeber des Gespensterbuchs sein wird, einer siebenteiligen Anthologie von Gruselgeschichten, die auf orientalischen Themen, heimischen Erzählungen und französischen Märchen basieren. Im ersten Band veröffentlicht Apel die Erzählung Der Freischütz.
Als Friedrich Kind 1816 Carl Maria von Weber kennenlernt, bittet der Komponist den Schriftsteller um eine Opernidee. Auf der Suche nach einem geeigneten Stoff fällt Kind die Erzählung seines mittlerweile verstorbenen Schulfreundes in die Hände. Weber hatte sie selbst schon 1810 entdeckt, aber aufgrund des tragischen Endes für ungeeignet befunden.
Doch Kind lässt sich etwas einfallen: Er ergänzt den Stoff mit eigenen Jägergeschichten, ersetzt die ernsthafte Mutter Agathes durch das fröhliche junge Ännchen und macht aus Kaspar einen tückisch-rachsüchtigen Gegenspieler. „Die Unschuld hält den wankenden Schwachen aufrecht! Der Orkus liegt unter, der Himmel triumphirt!", verspricht er dem Komponisten. 4) Das Textbuch ist in zehn Tagen fertig, die Komposition wird im Mai 1820 abgeschlossen. Am 18. Juni 1821 feiert Der Freischütz seine umjubelte Premiere im Königlichen Schauspielhaus zu Berlin.
4) Karl Dietrich Gräwe: „Das Ganze schließt freudig“, in: Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Texte, Materialien, Kommentare. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1980
Kind war mit etlichen Änderungswünschen des Komponisten nicht einverstanden gewesen; so musste er zum Beispiel die Vorgeschichte streichen, weil Weber dem Rat seiner Ehefrau folgend lieber mit einem Paukenschlag - dem Getümmel vor der Waldschänke - beginnen wollte. Bereits nach der Premiere wird der Komponist mehr gefeiert als der Librettist.
E.T.A. Hoffmann schreibt in der Vossischen Zeitung: „Was die Musik betrifft, so müssen wir gar von vornherein die Meinung aussprechen, dass seit Mozart nichts Bedeutenderes für die deutsche Oper geschrieben ist, als Beethovens Fidelio und dieser Freischütz [ ... ]; um Herrn Kinds Anteil daran würde die Nachwelt nicht zu trauern haben; aber der unsterbliche Lebenshauch, den von Weber dem wunderlichen Gesellen einblies, schützt diesen sicher vor dem Untergang“ und „[ ... ] das Finale geht leider! In den Fehlern des Dichters so ziemlich mit verloren.“ 5)
5) Csampai, Attila und Dietmar Holland (Hrsg): Carl Maria von Weber:
Der Freischütz. Texte, Materialien, Kommentare. - Mit einem Essay von Karl Dietrich Gräwe, S. 113. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1980
Carl Maria von Weber versucht alles, die Kränkung wieder gut zu machen: „Welchen Dank, mein teurer Kind, bin ich Ihnen für diese herrliche Dichtung schuldig; zu welcher Mannigfaltigkeit gab sie mir Anlass, und wie freudig konnte sich meine Seele über ihre herrlichen, tiefempfundenen Verse ergießen“, schreibt er am 18.Juli 1821 an seinen Textdichter“. 6) Doch öffentlich macht er seine Anerkennung nicht. „Kind grollte, daß er so unbeachtet beiseite stehen mußte, er schrieb die Schuld zum Teil Weber zu [ ... J. Kind hatte ein Honorar von 30 Dukaten von Weber erhalten; als dessen Einnahmen von den Berliner Aufführungen bis auf 1600 Taler gestiegen waren, sandte er ihm noch einmal 30 Dukaten als Ehrengeschenk. Kind wies es unter bittern Anspielungen auf die Undankbarkeit des Komponisten zurück“, schreibt Gustav Thormälius im Gedenkblatt zur 100. Wiederkehr der Uraufführung. 7)
Weber setzt 1818 durch, dass der Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha Friedrich Kind den Titel eines Hofrats verleiht. 1819 komponiert er zudem eine Festkantate nach Texten von Kind. Doch die Schmach nach dem Freischütz sitzt tief. Und als Weber 1821 einen zweiten Librettoentwurf Kinds, El Cid, zurückweist, kann auch eine weitere Festkantate, die der Komponist zwei Jahre später nach Texten von Kind zu Papier bringt, nichts mehr ausrichten.
6) „Carl Maria von Weber und sein Textdichter Friedrich Kind“, Dr. Adolph Kolmt in „Neue Zeitschriit für Musik“, Leipzig 1912
7) Daheim-Kalender für das Deutsche Reich auf das Jahr 1920, S. 137 f., Delhagen & Klasing Bielefeld
Das schriftstellerische Werk Kinds jenseits des Freischütz-Librettos ist weitestgehend in Vergessenheit geraten. Lediglich sein Schauspiel Das Nachtlager von Granada (1818) hat als Opernvorlage 8) überlebt. Johann Friedrich Kind stirbt am 24.Juni 1843 in Dresden.
8) „Das Nachtlager in Granada“ (1834), Oper von Conradin Kreutzer (Musik) und Karl Johann Braun Ritter von Braunthal (Libretto) nach einer Vorlage von Friedrich Kind
Matthias Gerschwitz
EINE REISE DURCH DIE NACHT INS LICHT
Interview mit dem „Freischütz-Regisseur Anthony Pilavachi
203 Jahre nach seiner Uraufführung im Berliner Schauspielhaus inszenieren Sie Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ auf der Eutiner Seebühne. Der Komponist ist in Eutin geboren, die Oper hat hier schon verschiedene Inszenierungen erlebt - kommt Weber wieder einmal nach Hause? Oder darf der Besucher etwas Neues erwarten?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Opern zu inszenieren. Man kann es werkgetreu machen oder den Stoff in die Neuzeit versetzen, um zu zeigen, wie aktuell diese oder jene Aussage sei. Damit unterliegen Inszenierungen aber immer einer gewissen Mode. Ich gehe einen anderen Weg, ich gehe zurück zum Ursprung. Ohne Traditionell zu sein. Die Vorlage zum „Freischütz“ erschien 1810 in den „Gespenstergeschichten“ von August Apel, war damals also ziemlich neu und aktuell. Was mag Weber empfunden haben, als er den Text las? Warum hat Weber sich mit der Hauptfigur Max identifiziert, und was hat sein Librettist Friedrich Kind gedacht? Das ist mein Ansatz.
Bei „Gespenstergeschichten“ hat man gleich ein Bild vor Augen:
Gruseln, Spannung, Dunkelheit. Und man denkt unwillkürlich an Edgar Alan Poe.
Die Assoziation mit Poe ist gar nicht verkehrt. Visuell vor allem. Es geht im „Freischütz „ nicht um Gespenster, sondern um „das Gespenstische“ an sich. Die intolerante Gesellschaft, die Max nach seiner traumatischen Rückkehr aus dem Krieg konfrontiert. Der Leistungsdruck, den er erfährt, und die Konsequenzen aus Verzweiflung, die er mit Hilfe von Kaspar einbüßt.
Apropos Volksgut: „Der Freischütz“ wird ja gerne als erste deutsche Nationaloper bezeichnet. Wie ist das zu verstehen?
Ich finde diese Kategorisierung sehr unglücklich. Weber ist kein Nationalist im heutigen Sinne, auch wenn Richard Wagner ihn als den „deutschesten aller Musiker“ bezeichnet hat. Tatsächlich hat er eine deutsche Oper geschrieben und damit die Vorherrschaft der italienischen Oper durchbrachen. Das Publikum sah auch in der Figur des Max, die eigene Sehnsucht nach einem eigenständigen Leben, privat wie politisch. Viele Melodien aus dem „Freischütz“ sind auch zum Volksgut ... sogar zum Volkslied geworden. Wäre Weber Nationalist gewesen, hätte er sich auch der Loreley oder anderen „typisch deutschen“ Stoffen gewidmet. Tatsächlich aber hat er zuvor „Abu Hassan“ oder danach „Oberon“ komponiert.
Es gibt ein Spannungsfeld zwischen dem Komponisten und dem Librettisten. Friedrich Kind lässt den Stoff viel weiter vorne beginnen, Weber hat das aber nicht übernommen, sondern setzt erst mit dem Volksgetümmel vor der Waldschänke ein ...
Ich finde es schade, dass Weber das nicht auskomponiert, sondern gestrichen hat - auf Empfehlung seiner Verlobten, der Sängerin und Schauspielerin Caroline Brandt übrigens! Ihrer Meinung nach sollte „Der Freischütz“ mit einem Paukenschlag beginnen. So fehlt eigentlich ein zum Verständnis nicht unwichtiger Teil, den ich aber in einer Art Prolog auf die Bühne bringen werde. Schließlich geht es darum, dass die Handlung für den Zuschauer schlüssig ist.Alles, was die Regie erzählt, ist auch zu sehen.
Was fasziniert Sie am „Ereischütz“?
Kurz gesagt: die Dialektik des Stoffes. Bevor die Oper den endgültigen Titel bekam, hieß sie zunächst „Der Probeschuss“ und dann „Die [ägersbraut“. Der Probeschuss stellt die Versagensängste der Hauptfigur Max in den Vordergrund, denn er muss erfolgreich sein, um heiraten zu dürfen - und die spätere Titelidee verweist auf Agathe, die als Preis für Max' Erfolg, als Trophäe, ausgesetzt ist. Beide Figuren sind so gegensätzlich gezeichnet, dass man sich fragen muss, warum sie eigentlich zusammenkommen wollen. Sie haben nicht einmal ein gemeinsames Duett in der ganzen Oper! Dass sie sich lieben, ist höchst wahrscheinlich ... aber doch nur zwischen den Zeilen zu lesen.
Sind nicht alle Personen im „Freischütz“ widersprüchlich?
Ja, aber das ist vor allem der Zeit geschuldet. Weber hat die Oper kurz nach den Befreiungskriegen geschrieben, Kind hat sie ans Ende des Dreißigjährigen Kriegs verlegt. Die Welt ist in Unordnung, jeder hat - wie man so schön sagt - „ sein Päckchen zu tragen“ ... jeder hat ein anderes Trauma: Max hat Versagensängste, Kaspar ist vom Krieg gezeichnet, Kuno braucht einen Nachfolger, Kilian ist nicht standesgemäß, Ottokar ist ein schwacher Fürst. Kuno würde gerne Max als seinen Nachfolger ernennen, aber wie er ihm sagt: „Leid oder Wonne, beides rührt in deinem Rohr!“ Und macht nebenbei Max klar, dass er zurzeit impotent ist. Die einzigen Konstanten in der Oper sind der Eremit als „ das Gute“ und Samiel als „das Böse c.Aber was ist „gut“ und was ist „böse „? Und welchen Einfluss hat das auf den Verlauf der Geschichte? Auch das Libretto habe ich ergänzt: In meiner Textfassung wird Samiel eine größere Sprechrolle sein.
Wird dadurch „dem Bösen“ nicht zu viel Platz eingeräumt?
Das Gute und das Böse sind Teil der Schöpfung. Der Schöpfer hat beides auf die Welt gesetzt als Prüfung für die Menschheit. Samiel ist nicht „das Böse“ per se ... verglichen zum Beispiel mit Mephisto aus dem „Faust“ oder einem Dämon wie „Nosferatu“. Er wird gekennzeichnet durch den „kalten Hauch des Todes „, aber letztlich ist er Teil eines Jeden - deshalb ist er in meiner Inszenierung auch immer irgendwie präsent. Und: Was wäre „das Gute „, wenn es „das Böse „ nicht gäbe?
Welche Rolle spielt Eutin in Ihrer Inszenierung?
Der Ort hat eine besondere Atmosphäre. Denn was der Zuschauer in und um die Seebühne herum sieht, sind dieselben Bilder, die Carl Maria von Weber sah, als er 1810 in Eutin gastierte und die ihn vielleicht auch inspiriert haben ... 1810 war auch das Jahr, in dem er auf die Vorlage zum „Freischütz“ stieß, die erst 1821 zur Premiere kam.Agathe sagt an einer Stelle: „Man sieht den Mond, man sieht die Sonne nicht.“ Für mich ist das die klassische Romantik: die Sehnsucht nach Heimat, gepaart mit einer kindlichen Angst. Heimat, wo Geborgenheit zu erleben ist, nicht das theoretische Pathos.
Welche Möglichkeiten bietet Ihnen die Seebühne?
Ich freue mich schon darauf, die neue Bühne in ihrer gesamten Breite, Tiefe und Höhe ausnutzen zu können. Das gilt besonders für die Wolfsschlucht, in der die zentrale grandiose Szene der Oper spielt: ein überfordernder Alptraum für Max.
Was werden die Zuschauer nach der Vorstellung mit nach Hause nehmen?
Dass man andere nicht so schnell beurteilen soll als wäre man Gott der Vater. Wer sind wir, seine vielfältige Schöpfung in Frage zu stellen?
Das Interview führte Matthias Gerschwitz.
WAS IST GUT- WAS IST BÖSE?
Das Libretto des „Freischütz“ basiert auf der gleichnamigen Erzählung aus den von August Apel 1810 veröffentlichten Gespenstergeschichten, allerdings gibt es bei Apel kein Happy End. Mit der letzten der Freikugeln erschießt Wilhelm seine Verlobte Käthchen und verfällt dem Wahnsinn. Die Oper dagegen endet versöhnlich - aus Max und Agathe (Wilhelm und Käthchen) wird ein Paar. Bei den Eutiner Festspielen 2024 geht Regisseur Anthony Pilavachi einen neuen, spannenden Weg: In der Rückbesinnung auf Apels Freischütz hat er auf Basis des Kind'schen Librettos eine eigene Textfassung mit einem ungewöhnlichen Ende erarbeitet.
Dabei hatte schon August Apel eine Veränderung vorgenommen. Die Grundlage für seine Gespenstergeschichte war ein Gerichtsprotokoll aus dem Jahr 172 9, in dem der Angeklagte eines angeblichen Teufelspakts überführt und zum Tode verurteilt wurde. Apel verzichtet auf ein richterliches Urteil und überlässt seinen Freischütz lieber dem Wahnsinn.
Johann Friedrich Kind aber folgt den religiösen Moralvorstellungen seiner Zeit und biegt für die Oper das tragische in ein versöhnliches Ende um. Dazu führt er eine neue Figur ein: den weisen Eremiten, die Inkarnation des Guten, der sich dem schwarzen Jäger Samiel, dem personifizierten Bösen, entgegenstellt.
Im Zeitalter der Romantik ist es aus religiösen Gründen undenkbar, dass das Böse gewinnt, ohne dass das Gute zumindest eine Chance gehabt hätte. Und der Eremit bekommt seine Chance: Er wird am Ende dafür sorgen, dass die böse Absicht Samiels, mit der letzten Freikugel aus Max' Gewehr Agathe zu töten, durchkreuzt wird. Statt seiner findet Kaspar, der Handlanger Samiels, den Tod. Im übertragenen Sinne hat das Gute also das Böse besiegt.
Es braucht halt immer einen Helden, auch wenn der sich meistens - zumindest zu Beginn - gar nicht als solcher fühlt. Davon leben Bücher, Filme und Geschichten aller Art. Manchmal werden die Helden aber schon früh als Helden eingeführt: Dann heißen sie „Batman“ oder „James Bond“, und nur die Gegenspieler ändern sich. In der gottesfürchtigen Romantik dagegen ist der Held immer ein anderer, der Antagonist aber immer derselbe: der Teufel, ersatzweise ein gefallener Engel. Und das führt direkt zu Samiel.
Geht man der Herkunft seines Namens auf den Grund, gibt es verschiedene Deutungen: Einerseits bedeutet Samiel „Gift Gottes“ oder „Todesengel“, auch wird er als Dämonenfürst beschrieben, der versucht, die Menschen zu schädigen. Andererseits könnte der Name von „Samuel“ abgeleitet sein: das Wort bedeutet „Gott hat erhört“ und folgt damit dem theologischen Gedanken, dass Satan ein Teil der göttlichen Schöpfung ist, um den Unterschied zwischen gut und böse begreifbar zu machen.
In der Romantik ändert sich der Umgang mit dem Bösen. Es wird nicht länger nur als Gefahr betrachtet, nun fasziniert bereits seine Beobachtung. Was löst Gefahr aus? Was macht sie mit dem Menschen? Wohin führt sie ihn? Der Grusel, das Gespenstische, das Mystische - dargestellt durch dunkle Wälder, schroffe Felsschluchten und undurchdringlichen Nebel - löst ein wohliges Schauern aus, aber dient doch nur als Zwischenstation. Am Ende muss es im christlichen Sinne eine positive Auflösung geben, ein Happy End. Deshalb erfand Johann Friedrich Kind die Figur des Eremiten, der ursprünglich bereits zu Beginn der Oper auftreten sollte. Aber Weber hörte lieber auf den Rat seiner Braut, dass die Oper mit einem Paukenschlag beginnen solle: im Volksgetümmel auf dem Platz vor der Waldschenke.
Und so dauert es einige Zeit, bis die Linie zwischen Gut und Böse deutlich wird. Nur langsam schält sich heraus, dass Samiel einen Gehilfen, einen Handlanger hat: Kaspar. Der hatte sich einige Jahre zuvor Samiel wegen ein paar Freikugeln verschrieben und sucht nun eine Gelegenheit, seine Seele zu retten und Rache zu nehmen: Einst sollte nämlich er als erster Jägerbursche die Tochter des Erbförsters Kuno heiraten und neuer Erbförster werden. Aber er musste in den Krieg ziehen. Die allein gelassene Agathe wandte sich mit dem Segen des Vaters dem zweiten Jägerburschen Max zu.
Als Kaspar zurückkommt, findet er sich um seine Zukunft betrogen. Von Neid zerfressen beschließt er, sich auf einen Schlag am Vater, der Tochter und an seinem Konkurrenten zu rächen: Max muss des Betrugs mit den Freikugeln überführt werden, Agathe muss sterben, ihr Vater soll bloßgestellt werden.
Dabei empfindet Kaspar sich selbst nicht als böse, sondern ist davon überzeugt, ein Recht auf Rache zu haben. Darüber hinaus verweigert er sich der Tatsache, dass jedes Handeln unweigerlich zu Konsequenzen führt. Deshalb findet das Böse auch so leicht willfährige Mitstreiter und Vollstrecker: es muss nur an die sogenannten niederen Beweggründe wie Neid, Habgier oder Hochmut appellieren. Kommen dann, sozusagen als Katalysator, noch Gleichgültigkeit und Leichtgläubigkeit dazu, nimmt das Böse an Fahrt auf und ist kaum noch zu stoppen.
Dem gegenüber steht die „Faszination des Bösen“, wie sie sich im Zeitalter der Romantik offenbart: die Lust an der Angst und der Gefahr, selbst wenn sie nur eine Illusion ist. Das ist das Geheimrezept der Gespenster- und Gruselgeschichten des 19.Jahrhunderts wie auch das heutiger Kriminalromane.
Unerlässlich ist dabei allerdings, dass man selbst vom Schicksal verschont bleibt. Die Hexe aus Grimms Märchen, der schwarze Mann aus dem Kinderreim, der Serienkiller aus dem sonntäglichen „Tatort“: Sie alle dürfen ungehindert ihren Tätigkeiten nachgehen, solange sie sich auf den Nachbarn beschränken. Und noch etwas wird im „Freischütz“ deutlich: Während das Gute in Person des Eremiten für alle sichtbar ist, zeigt sich das Böse - also Samiel, der schwarze Jäger - als zumeist unbemerkte, beinahe illusionistische Erscheinung. Lediglich Kaspar sieht ihn, spricht zu ihm, beschwört seinen Namen. Und auch in der Wolfsschlucht ist Kaspar der Einzige, der Samiel sehen kann. Erst als die siebte Freikugel gegossen wird, als der Betrug vollzogen und die Voraussetzungen für die finale Absicht erfüllt sind, kann auch Max den Samiel hören, spüren und fühlen. Aber bevor ihm das bewusst wird, stürzt er ohnmächtig zu Boden.
Und so stellt sich Anthony Pilavachi in seiner Regiefassung der ewigen Frage: Ist das Gute wirklich gut, und ist das Böse wirklich böse? Verschwimmen nicht die Grenzen, sind sie nicht fließend, weil beide Teile derselben Schöpfung sind? Und wenn das Böse das Gute manipulieren kann, wie wir es bis auf den heutigen Tag immer und immer wieder erleben müssen, sollte das dann nicht auch andersherum funktionieren können?
Matthias Gerschwitz
ROMANTIK ODER DIE FLUCHT VOR DEM KRIEGSTRAUMA
Unter „Romantik“ verstehen wir heute etwas völlig Anderes, als mit der gleichnamigen Epoche zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts verbunden wird. Es geht dabei nämlich nicht um Kerzen und rote Rosen, nicht um zärtliche Musik am lodernden Kaminfeuer oder den Sonnenuntergang am Meer - und auch nicht um die „Romantische Straße“, die über 400 Kilometer zwischen Würzburg und Füssen an unzähligen Bau- und Kunstdenkmälern deutscher Geschichte vorbeiführt 1), obwohl sich hier der Grundgedanke vielleicht noch am ehesten manifestiert.
Die Epoche der Romantik gilt als Gegenbewegung zu Klassik und Aufklärung und gehört zu den zerrissenen Zeitabschnitten der Geschichte des europäischen Kontinents. Einerseits war der Ruf der französischen Revolution nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in ganz Europa vernommen worden, andererseits bedroht genau dieser Ruf die feudalen Strukturen, die außerhalb Frankreichs nach wie vor herrschen. Dazu schickt sich Napoleon an, Europa den Revolutionsgedanken mit militärischen Mitteln überzustülpen. Trotzdem gilt er in Europa vielen als Hoffnungsträger, sie sehen im korsischen General jene Galionsfigur, die Europa befreien und demokratisieren werde. Doch als er sich am 2. Dezember 1804 selbst zum Kaiser krönt, wenden sich viele seiner ehedem glühenden Anhänger von ihm ab. 2)
1) Die „Romantische Straße“ führt u. a. durch Rothenburg o. d. Tauber, Dinkelsbühl und Nördlingen; Sehenswürdigkeiten sind z. B. die Würzburger Residenz, der Creglinger Riemenschneider-Altar, die Fuggerei
Augsburg, die Wieskirche und Schloss Neuschwanstein.
2) Ludwig van Beethoven hatte seine 3. Sinfonie, die „Eroica“, eigentlich Napoleon zugedacht, den Untertitel „intitolata Bonaparte“ aber nach der Krönungsnachricht enttäuscht ausradiert. Folgerichtig feierte er den Sieg Englands über den Korsen dann auch 1813 mit der Komposition des Orchesterwerks „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“.
Die Kriege, die Europa zwischen 1792 und 1815 überziehen, zermürben die Bevölkerung. Die ersten Jahre verheißen noch so etwas wie eine neue Gesellschaftsordnung: durch die Befreiung der Bauernschaft, die Gewerbefreiheit, die Bildungsreform oder die Emanzipation der Juden soll dem selbstbewussten Bürgertum der Weg geebnet werden. Mit dem Ende des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ erwächst das Trauma der napoleonischen Vormachtstellung, dem die Romantik den Rückzug in die „innere Emigration“, den Austausch von Realität mit Mythen und Märchen und die Flucht in Traumwelten zu begegnen sucht.
Zwar hatten die vorausgegangenen Zeitalter viele Fragen mit Wissenschaft, Forschung und vor allem Vernunft beantwortet, doch waren Gefühle, Sehnsüchte und Träume dabei in den Hintergrund gedrängt worden. Die Seele, die Mystik, das übernatürliche - eben das Unerklärliche bricht sich nun in den Künsten Bahn. Besonders die Dichter der Romantik schaffen mit ihrer poetischen Betrachtung der Wirklichkeit Erzählungen, Lyrik und Märchen. Sie verklären einerseits die Heimat, in diese Zeit fällt die Verherrlichung des Rheins als Sinnbild deutscher Identität, und sie sollen andererseits die Sehnsucht nach fernen Gestaden und fremden Kulturen stärken. Das Zuviel an Wissen, das Übermaß an Vernunft der Aufklärung hatte die Menschen überfordert und verunsichert, nun suchen sie Halt.
Was wie ein Widerspruch klingt, ist die Rückbesinnung auf die Vergangenheit als Hort der Stärke, auf den Katholizismus als „feste Burg“ (auch wenn der Begriff seit Luther eigentlich protestantisch konnotiert wird) und die Flucht aus dem Alltag als Kritik an der bestehenden Situation. Kein Wunder, dass in dieser Zeit unter anderem Grimms Märchen, viele Volks- und Wanderlieder sowie Textsammlungen wie „Des Knaben Wunderhorne von Clemens Brentano entstehen. Die Erstveröffentlichung des letztgenannten Werks fällt wohl nicht unbeabsichtigt in das Jahr, in dem Napoleon durch seinen Sieg bei Austerlitz die alte Ordnung ins Wanken bringt.
Als einer der bekanntesten Vertreter der romantischen Literatur gilt zweifelsfrei Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, besser bekannt unter seinem Pseudonym „Novalis“. In seinem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ prägt Novalis die Idee der „Blauen Blume“ - das Sehnsuchtssymbol jener Zeit. Sie geht zurück auf eine alte deutsche Sage, nach der man durch den Fund der blauen Wunderblume in der Johannisnacht reich belohnt werde. Die Blume steht dabei nicht für irdische Schätze und Reichtümer, sondern für eine Sehnsucht, ein unstillbares Verlangen. Die Tatsache, dass Novalis mit nur 29 Jahren stirbt, überhöht und verklärt nicht nur sein Werk.
Die Idealisierung der Natur, die Flucht in die Fantasie kehrt das Innerste nach Außen. Nun heißt es: Gefühl vor Verstand. Und trotzdem dienen Gefühle als Katalysatoren, die den Verstand beflügeln sollen - aber nicht mit Wissen, sondern mit der Erkenntnis des Individuums und seinem zuweilen dunklen Seelenleben. „Das Böse“ ist nicht länger Gefahr, sondern wird zum Forschungsobjekt. Der Gedanke von der „Faszination des Bösen“ entsteht; die Nacht, „das Dunkle an sich“, wird zum beherrschenden Schauplatz. Fantasien über Tod und Vergänglichkeit, über Geheimnisvolles und Obskures lösen die Realität der Kriegsdramaturgie ab. Neben Novalis werden Werke von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe zur bevorzugten Literaturgattung. Schauermärchen oder Gespenstergeschichten wie diejenigen, die August Apel herausgibt und denen Friedrich Kind und Carl Maria von Weber den Freischütz entlehnen, haben Konjunktur.
Als die Kriege in Europa mit der endgültigen Niederlage Napoleons beendet sind und damit auch deren traumatische Erfahrungen, müsste eigentlich, so könnte man annehmen, auch die Romantik ihre Schuldigkeit getan haben. Aber nichts davon: Die Restauration in Europa, die Wiederherstellung der alten Zustände nach dem Wiener Kongress verschafft den Idealen der Epoche neue Nahrung. Das Mittelalter wird wiederentdeckt. Das Studium der Ursprünge der germanischen Vergangenheit wird zur Keimzelle eines Nationalgefühls, das spätestens mit Heinrich Heines „Lied von der Loreley“ eine ebenso romantische wie politische
Unterfütterung erhält - wobei man Heine sicherlich keines übersteigerten Nationalgefühls zeihen darf. Die „Loreley“ basiert auf einer Ballade von Clemens Brentano aus dem Jahr 1801, und die lässt sich wiederum mythologisch bis zu Ovids „Metamorphosen“ zurückführen.
Die Epoche der Romantik, an deren Beginn die französische Revolution stand, teilt sich später auf in das Biedermeier, das sogenannte „junge Deutschland“ und den „Vormärz“ und endet ironischerweise endgültig mit einer weiteren Revolution: der deutschen Revolution von 1848. Novalis hatte einst an seine Zeit einen Wunsch formuliert: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“ ' Er geht nicht in Erfüllung. Mit vielleicht einer Ausnahme: Die „Romantische Straße“, die 1950 in der noch jungen Bundesrepublik als Ferienstraße entwickelt wird, soll das Trauma des gerade verlorenen Weltkriegs überwinden helfen und Deutschland nach der Barbarei des Nationalsozialismus' wieder als zivilisiertes Land mit unbefleckter Mythologie, spannender Geschichte und romantischen Märchen präsentieren. Zumindest diese Mission scheint geglückt.
Matthias Gerschwitz
EUTIN UND „DER FREISCHÜTZ“
Liverpool hat die Beatles, Salzburg den „Jedermann“, und bei Eutin klingt sogleich der „Freischutz“ mit. Diese Oper, 1821 in Berlin uraufgeführt und seither als erste deutsche Nationaloper gerühmt, hat Carl Maria von Weber verfasst. Er wurde im November 1786 in Eutin geboren und ist mit seiner Musik, ob „Freischütz“, „Aufforderung zum Tanze“ oder Klarinettenkonzerte, noch heute weltweit präsent. Wann immer die Lebensdaten des Komponisten Anlass für ein Gedenkjubiläum gaben, feierte man dies in seiner Geburtsstadt ausgiebig.
Besonders folgenreich geschah dies zum 125. Todesjahr des Komponisten: Mitte Juni 1951 sollte hier Webers Oper Der Freischütz erstmals unter freiem Himmel im Schlossgarten aufgeführt werden. Unter Leitung von Regisseur Kurt Brinck und Kapellmeister Erwin Jamrosy machten sich hunderte Bürger, viele davon Heimatvertriebene, als Musiker, Chorsänger, Kostümschneider, Kulissenbauer, Statisten, Platzanweiser oder Gastgeber ans Werk. Ihre Gage: Würstchen mit Kartoffelsalat.
Für die Solopartien waren rollenerprobte Sängerinnen und Sänger von Stadtbühnen engagiert worden. Das Orchester saß auf Stühlen vor dem Bühnenhügel, das Publikum auf harten Holzbänken am Seeufer. Versteckt hinter der grünen Naturkulisse standen Zelte, in einem wartete ein Eutiner Junge gespannt auf seinen Einsatz, um auf einem Blechdeckel den Donner für die Wolfsschlucht-Szene zu schlagen.
Die Premiere fand bei bestem Wetter und mit frenetisch gefeierter Erlebniswirkung statt. Die Begeisterung allerorten über diese Eutiner Freilichtoper so groß und verlangend, dass die Initiatoren kurzerhand bis Ende Juli 1951 noch sieben weitere Aufführungen zustande brachten. Alle ausverkauft, alle trocken über die Bühne gehend, 15000 Zuschauer insgesamt. Vom „Freischützwetter“ war jubelnd die Rede. Dieser fulminante Erfolg erklärt sich vor allem aus dem kulturellen Nachholbedarf in der Nachkriegszeit. Die Not war groß, ebenso der Hunger nach Ablenkung und Zerstreuung, einen Folge der gewaltsamen Umwälzungen aller Lebensumstände durch das Tausendjährige Reich. Die Deutschen wollten Krieg und Zerstörung vergessen, polierten in Heimarbeit das Gute, Wahre, Schöne wieder auf. Dementsprechend setzte man fortan in Eutin auf „die unvergänglichen und uns deutschen Menschen so besonders vertrauten Melodien Carl Maria von Webers, des größten Sohnes unserer Stadt“. Das stimmungsvolle Volksmusiktheater im Grünen wuchs anfangs noch ohne Konkurrenz aus der Flimmerkiste zur festen Größe in der Kulturbranche, später profitierte es von Sendungen wie „Der blaue Bock“, die klassische Musik unterhaltend präsentierten. Und während Deutschlands Intellektuelle debattierten, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben dürfe, reüssierte auf der Eutiner Opernbühne das altbewährte Musiktheater mit Werken vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, deutsch gesungen und anheimelnd verständlich inszeniert. „Motorisiertes Biedermeier“ nannte Erich Kästner jene Jahre im Nachkriegsdeutschland.
Der Freischütz stand bis zum Fall der Berliner Mauer in 35 Sommern fast ununterbrochen auf dem Eutiner Spielplan, häufig zusammen mit Mozarts Die Zauberflöte, Lortzings Zar und Zimmermann und Operetten wie Der Vogelhändler und Der Zigeunerbaron.
Wer die Szenenfotos dazu betrachtet, kann sich, auch ohne dabei gewesen zu sein, gut vorstellen, wie alles andere als gegen den Strich gebürstet die Inszenierungen damals in Eutin über die Bühne gingen. Wobei die Intendanten Ulrich Wenk, Gerd Nienstedt und Siegfried Grote über Jahrzehnte verlässlich dafür sorgten, dass die musikalische Qualität der Darbietungen unter freiem Himmel immer wieder Kritiker und Zuschauer überzeugte.
Doch Globalisierung, Internet und veränderte Publikumserwartungen machten auch vor den Eutiner Festspielen nicht Halt.
Nach der Jahrtausendwende sind hier zunehmend dramatische Opern von Verdi und Puccini gefragt, seit wenigen Jahren werden auch klassische Musicals auf der Freilichtbühne präsentiert.
Wenn Webers Freischütz nun in größeren Abständen auf dem Programm steht, so bleibt er doch mit inzwischen rund 300 Vorstellungen in 43 Aufführungsjahren unbestritten weiterhin Eutins Paradestück. In dem haben Regisseure wie Jörg Fallheiter 2005, Kay Kuntze 2010 und Dominique Caron 2016 für ihre Inszenierungen frische Blickwinkel gefunden. So betonte Kuntze die Versagensängste des Max als Folge einer posttraumatischen Störung durch seine Erlebnisse im 30jährigen Krieg, Caron zielte auf die Sinnentleerung von fürstlichem Brauchtum, dessen Zeit längst abgelaufen ist.
Man darf gespannt sein, wie der vielfach preisgekrönte Regisseur Antony Pilavachi in diesem Sommer den Freischütz auf die Bühne bringen wird. Eines aber ist gewiss:
Dabei wird die Natur eine ganz eigene Rolle übernehmen. Denn nirgendwo könne die Wolfsschlucht-Szene so wirkmächtig über die Bühne gehen wie in Eutin, befand 2010 der Dirigent Ulrich Windfuhr: „ Wenn es dämmert, kräht, die Bäume rauschen, der Mond aufzieht, man den See im Rücken spürt, dann wird das Publikum richtig eingesogen von der Musik, wie es keine 3D-Animation und kein Regisseur in Szene setzen kann. Das ist Magie, und man kann den Menschen nur raten: Schaut es euch an.“
Hartmut Buhmann
Informationen
Dirigent: Leslie Suganandarajah
Regie: Anthony Pilavachi
Bühnenbild: Jörg Brombacher
Kostümbild: Cordula Stummeyer
Lichtdesign: Rolf Essers
Chorleitung: Sebastian Borleis
Orchester: Kammerphilharmonie Lübeck (KaPhiL!)
Chor: Chor der Eutiner Festspiele
Tickets / Termine
Hinweis: Die historischen Texte und Abbildungen dieser Rückschau (bis in die 1950er Jahre) stammen aus den jeweiligen Programmheften und Fotosammlungen und spiegeln ihre Zeit. Sie könnten Begriffe und Darstellungen enthalten, die heute als diskriminierend oder unangemessen gelten. Die Eutiner Festspiele distanzieren sich daher ausdrücklich von solchen Inhalten. Auch die Erwähnung teils umstrittener Persönlichkeiten erfolgt ausschließlich im historischen Zusammenhang. Der digitale Rückblick soll Geschichte transparent machen und zur kritischen Auseinandersetzung mit Sprache, Haltung und Zeitgeschehen anregen. Wo erforderlich, ergänzen wir erläuternde Hinweise. Hinweise auf sachliche Fehler oder notwendige Kontexte nehmen wir gerne unter info@eutiner-festspiele.de entgegen.