Wertgutschein kaufen

La Bohème

Ewig junge Oper von Giacomo Puccini über die Liebe.

Ganz Paris träumt von der Liebe, zu allen Zeiten, in jeder Generation. Für dieses Lebensgefühl hat Giacomo Puccini mit „La Bohème“ eine ewig junge Oper komponiert: eine Lovestory, so anrührend wie die Musik voller Herz, Schmerz und Leidenschaft, einfach zum Weinen schön. 1896 in Turin uraufgeführt, gehört „La Bohème“ jetzt seit 125 Jahren weltweit zu den erfolgreichsten Opern.

La Bohème – Ewig junge Oper von Giacomo Puccini über die Liebe.

Ganz Paris träumt von der Liebe, zu allen Zeiten, in jeder Generation. Für dieses Lebensgefühl hat Giacomo Puccini mit „La Bohème“ eine ewig junge Oper komponiert: eine Lovestory, so anrührend wie die Musik voller Herz, Schmerz und Leidenschaft, einfach zum Weinen schön. 1896 in Turin uraufgeführt, gehört „La Bohème“ jetzt seit 125 Jahren weltweit zu den erfolgreichsten Opern.

Sie spielt um 1850 in der Pariser Künstlerszene. Als Maler, Musiker, Philosoph und Poet tun sich vier Freunde schwer mit dem Geldverdienen. Viel leichter fällt es ihnen, die Freuden des Lebens zu suchen und zu genießen. So entflammt der arme Dichter Rodolfo auf der Stelle für seine reizende Nachbarin Mimi, als die eines Abends an seine Tür klopft. Sie erwidert spontan seine Gefühle, voilà: Im Freundeskreis wird das Liebesglück gefeiert.

Doch das Hochgefühl ist nicht von Dauer. Je näher sie sich dann kommen, desto bedrohlicher erscheint beiden ihr Glück. Denn Mimi ist sterbenskrank, und Rodolfo hat als Hungerkünstler nicht die Mittel, ihr zu helfen. Ist es da nicht gut, sich zu trennen und keine Verantwortung füreinander zu fühlen? Aber dauerhaft voneinander lassen können beide auch nicht – allen leichtlebigen Parolen der Bohèmiens um sie herum zum Trotz. Bis dass der Tod sie scheidet … eine der ergreifendsten Finalszenen der Operngeschichte.

 

Handlung

 

Erstes Bild

Der Dichter Rodolfo und der Maler Marcello sitzen am Weihnachtsabend frierend vor dem kalten Ofen ihrer Pariser Mansarde. Sie haben weder Brennholz noch etwas zu essen. Um sich kurzzeitig aufzuwärmen, verbrennt Rodolfo eines seiner Manuskripte, aber die Hitze hält nicht lange vor. Ihr Freund Colline, ein Philosoph, versucht derweil im Pfandhaus ein paar Habseligkeiten zu Geld zu machen - aber auch das misslingt, und er kehrt missmutig zurück. Dann betritt der Musiker Schaunard gut gelaunt das Zimmer. Ein etwas skurriler Auftrag - er sollte so lange musizieren, bis der Papagei eines reichen Engländers tot von der Stange fällt, hat dem Schicksal aber mit etwas Schierlingspetersilie nachgeholfen - hat ihm so viel Geld eingebracht, dass er Holz, Wein und Lebensmittel besorgen konnte und sogar noch Bargeld übrig hat.
Schlagartig hellt sich die trübe Stimmung auf. Man beschließt, das Cafehaus aufzusuchen, aber zuvor erscheint ihr Vermieter und will die überfällige Miete eintreiben. Statt ihn zu bezahlen, geben die Freunde ihm so viel zu trinken, bis er zugibt, seine Frau betrogen zu haben. Die Freunde nutzen die Beichte des Betrunkenen schamlos aus, erpressen ihn mit dem Fehltritt und werfen ihn hinaus.
Dann machen sich Marcello, Colline und Schaunard auf den Weg ins Quartier Latin, während Rodolfo noch einen Artikel fertigstellen will. Doch gerade, als er anfangen will, klopft die Nachbarin Mimi an seine Türe und bittet um Feuer für eine Kerze.
Unvermittelt erleidet sie einen Schwächeanfall, wobei ihr der Schlüssel aus der Tasche fällt. Als sie wieder zu Kräften kommt, bittet sie Rodolfo, ihr bei der Suche zu helfen - doch kaum, dass er den Schlüssel findet, steckt er ihn heimlich selbst ein, um länger mit ihr zusammen zu sein. Während er so tut, als würde er weitersuchen, stellt er sich ihr genauer vor, worauf auch Mimi aus ihrem Leben und von ihren Träumen erzählt. Verliebt folgen sie den Freunden ins Cafe.

Zweites Bild

Im und vor dem Cafe „Mornus“ herrscht fröhlicher Weihnachtstrubel. Rodolfo stellt Mimi seinen Freunden vor; da entdeckt er am Nebentisch Musetta, die frühere Geliebte Marcellos. Sie sitzt dort mit ihrem reichen und deutlich älteren Geliebten Alcindoro - aber statt sich um diesen zu kümmern, beginnt sie einen Flirt mit Marcello, den sie immer noch liebt. Als jener darauf anspringt, schickt sie Alcindoro unter einem Vorwand fort. Kurz darauf verlassen Rodolfo und Mimi, Marcello und Musetta sowie die beiden Freunde das Cafe, ohne zu bezahlen. Als Alcindoro zurückkehrt, sind alle fort - und er muss die Rechnung übernehmen.

Drittes Bild

Ein paar Wochen sind ins Land gegangen. Marcello und Musetta leben in einem Gasthof am Stadtrand und finanzieren ihren Lebensunterhalt mit Malerei und gelegentlichen Gesangsauftritten. Mimi und Rodolfo haben sich mittlerweile getrennt, weil er ständig, aber unbegründet eifersüchtig war. Als sie an einem kalten Februarmorgen Marcello aufsucht, um ihn um Rat zu fragen, taucht unerwartet Rodolfo auf. Mimi verfolgt das Gespräch der beiden Freunde aus einem Versteck und erfährt auf diese Weise, dass Rodolfo sie immer noch liebt, sie aber wegen ihrer Schwindsucht freigegeben hat; sie soll einen reichen Freund finden, der ihre Behandlung finanzieren kann.
Da verrät sie sich durch einen Hustenanfall, und die beiden Liebenden fallen sich in die Arme. Sie können nicht voneinander lassen und beschließen, noch ein wenig zusammen zu bleiben und sich erst im Frühjahr zu trennen, wenn Mimi größere Chancen auf einen reichen Gönner hat. Auch Musetta hat sich von Marcello getrennt - auch hier ist seine Eifersucht der Grund.

Viertes Bild

Einige Monate später: Rodolfo und Marcello versuchen, ihre Trauer über die Trennung in Arbeit zu ersticken, aber es gelingt ihnen nicht. Unentwegt müssen sie an ihre verflossenen Lieben denken. Colline und Schaunard tauchen mit ein paar Lebensmitteln auf, um sie abzulenken. Die Freunde tun so, als dinierten sie fürstlich und versuchen, sich durch lustige Spielchen bei Laune zu halten.
Da erscheint Musetta mit der todkranken Mimi, die einmal noch Rodolfo sehen möchte. Um ihr Medikamente und einen Muff zu beschaffen, legen die Freunde zusammen: Musetta verkauft ihren Schmuck, Colline seinen geliebten Mantel. Zurück bleiben Rodolfo und Mimi, die sich an ihre erste Begegnung in der Mansarde erinnern. Sie gestehen sich ein letztes Mal ihre Liebe, dann kommen die Freunde mit dem heiß ersehnten Muff für Mimi zurück. Aber es ist zu spät. Musetta spricht ein Gebet, Schaunard erkennt, dass Mimi bereits verstorben ist, nur Rodolfo ist zu beschäftigt, es zu bemerken. Erst als Marcello ihn darauf aufmerksam macht, stürzt er einsam und verzweifelt an ihr Totenbett.

Matthias Gerschwitz

 

PUCCINI SCHREIBT EINE OPER ...

Vor 125 Jahren wird sie uraufgeführt; es ist die vierte Oper des italienischen Komponisten - und sie ist unbestreitbar sein Meisterwerk. Der anhaltende Erfolg von „La Boheme“ liegt wohl darin begründet, dass Puccini trotz anfänglicher Widrigkeiten eine genaue Vorstellung vom Ergebnis hatte. Den Stoff, Henri Murgers „Scenes de la vie de ooneme“ hatte sein Freund und Kollege Ruggero Leoncavallo vorgeschlagen und ihm auch gleich ein Libretto präsentiert, doch Puccini lehnte die Vorlage als „zu literarisch“ ab. Leoncavallo hingegen war von Stoff und Libretto so überzeugt, dass er eine eigene „Boheme“ schrieb. Sie wurde über ein Jahr später als Puccinis Version uraufgeführt, konnte aber niemals auch nur annähernd deren Bedeutung erlangen. Darüber zerbrach die Freundschaft der beiden Komponisten.
Puccini besinnt sich, was den Stoff betrifft, zum Glück schnell eines Besseren. „Die Geburtsstunde war an einem Regentag, als ich nichts zu tun hatte und mich daran machte, ein Buch zu lesen, das ich nicht kannte. [Es] nahm mich mit einem Schlag gefangen. In jener Umgebung von Studenten und Künstlern fühlte ich mich sofort zu Hause. In dem Buch war alles, was ich suchte und liebe: die Frische, die Jugend, die Leidenschaft. die Fröhlichkeit, die schweigend vergossenen Tränen, die Liebe mit ihren Freuden und Leiden. Das ist Menschlichkeit, das ist Empfindung, das ist Herz. Und das ist vor allem Poesie, die göttliche Poesie. [ ... ] Sofort sagte ich mir: das ist der ideale Stoff für eine Oper“, schreibt er seinem Biografen Arnaldo Fraccaroli. 1)

1) Arnaldo Fraccaroli: La vita di Giacomo Puccini, Milano 1925, dt .. Leipzig 1926

Die Milieustudie der Bohemiens von Henri Murger gefällt, doch schweben ihm andere Schwerpunkte vor: Statt Einsamkeit und Armut sollen Krankheit und Eifersucht die treibenden Elemente sein. So beauftragt er Luigi Illica und Guiseppe Giacosa, mit denen er bereits bei Manon Lescaut zusammengearbeitet hatte und mit denen er später auch bei Tosca und Madama Butterfly Erfolge feiern wird, mit den Arbeiten am Buch. Puccini lässt es sich aber nicht nehmen, eng mit seinen Librettisten zusammenzuarbeiten, auch wenn die Kooperation nicht immer einfach ist. Mal streiten sich die Librettisten untereinander, dann ist der Komponist unzufrieden. Puccini ist manches Mal sogar kurz davor, die Arbeiten abzubrechen. „Ich wüsste nicht zu sagen, ob der Fehler an mir oder am Libretto liegt. Vielleicht an beidem. Vielleicht auch ganz allein an mir“, notiert er in einem Brief.
Doch die Beharrlichkeit zahlt sich aus. 1895 ist das Libretto endgültig fertig - ein Buch, das sich nach Aussage der Kritiker durch eine „klare, wenn auch dramatisch ungleiche Formgebung“ 2) auszeichnet. Aus den verspielten Darstellungen der Vorlage werden sauber gezeichnete und psychologisch ebenso tief wie detailreich beschriebene Figuren. Mimi und Rodolfo sind die Hauptakteure, hinter denen die anderen Protagonisten zurückstehen müssen. Bei der Musik beschreitet Puccini einen ungewöhnlichen Weg. Er verzichtet auf die Ouvertüre und beschränkt sich auf eine orchestrale Einleitung; die Arien und Duette stehen nicht, wie in einer Nummernoper, als Solitäre im Raum, sondern entstehen aus dem Fluss der durchkomponierten Oper. Trotzdem ragt eine Reihe von solistischen Glanzstücken als Höhepunkte aus dem Gesamtwerk heraus.

2) Ernst Krause: „Oper A-Z- Ein Opernführer“. 3. Auflage, Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, S. 384.

Und doch scheint der Oper kein Erfolg vergönnt. Als Arturo Toscanini am 1. Februar 1896 im Turiner Teatro Regio die Uraufführung von La Boheme dirigiert, sind die Reaktionen bescheiden. Sowohl der Stoff - „Wie konnte sich der Komponist nur in diese jämmerlichen Niederungen der Boheme verirren, mit ihrer Atmosphäre der Hinterhöfe und Mansarden, der Schwindsucht und der Prostitution“ 3) - als auch die Musik - „Sie ist oberflächlich. Und so wie diese Boheme keinen tiefen Eindruck beim Hörer hinterlässt, so wird sie auch keine bedeutende Spur in der Operngeschichte hinterlassen“ 4) - finden keinen Anklang. Auch in Rom und Neapel fällt die Oper durch - erst am 14. April 1896 kann La Boheme in Palermo ihren ersten Triumph feiern. Damit hat Puccini es geschafft. Und noch mehr: 1897 debütiert in Livorno ein junger Tenor in der Rolle des Rodolfo, von dem noch viel zu hören sein wird - Enrico Caruso.

3) Michael Stegemann: „Der Einbruch der Realität in die Oper“, Deutschlandfunk, Kalenderblatt: 01.02.2021
4) ebd.

Tatsächlich liegt das Problem weniger in der Musik als in der Ansiedlung der Handlung. Das italienische Opernpublikum ist verwöhnt; man goutiert edles Ambiente, vornehme Rollen und exquisite Ausstattungen. Und dann kommt da plötzlich ein Komponist, der bereits 1884 mit seiner Debütoper Le Villi und 1893 mit Manon Lescaut seine Kunstfertigkeit und Eleganz unter Beweis gestellt hatte - seiner zweiten Oper Edgar war 1889 kein Erfolg beschieden gewesen -, und haut dem nichtsahnenden Opernbesucher das wahre Leben um die Ohren - ungeschminkt und ungeschönt. Realismus, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit - das muss sich erst einmal jemand trauen!
Ob er es vorausgesehen oder auch nur geahnt hat - man weiß es nicht. Aber: Puccini erweist sich als Genie. La Boheme darf als Sternstunde des Verismo gelten, jener Stilrichtung der italienischen Oper, die 1890 mit der Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni ihren Einzug in die Opernhäuser hielt. Entstanden aus dem literarischen Naturalismus, der sich nicht scheute, auch hässlich zu sein, zeigt auch die Oper den Menschen in all seinen natürlichen Facetten zwischen einfacher Denkart und schierem Ungestüm; es geht um nichts weniger als das Leben, Leiden und Lieben von gewöhnlichen Menschen. Doch auch hier ist oft mehr Schein als Sein: Selbst die groteskeste Überzeichnung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lachen nicht ein Zeichen von Amüsement sein muss. Leoncavallos Bajazzo („Il Pagliacci“, Uraufführung 1892 im Teatro Dal Verme, Mailand) beispielsweise ist eine durch und durch tragische Figur, sein Lachen ein Akt der reinen Verzweiflung.

Der Verismo erlaubt dem Opernbesucher erstmals, sich selbst auf der Bühne wiederzufinden. Vielleicht liegt ja darin das Geheimnis des Erfolgs: La Boheme zeigt das wahre Leben, aber überhöht die harte Realität durch bewegende Musik, die das auf der Bühne präsentierte Spiegelbild des eigenen Seins emotional so unterfüttert, dass auch der Letzte erkennen muss: Sei Du selbst. Armut ist keine Schande. Es kommt darauf an, was Du aus Deinem Leben machst. Und: Sterben werden wir alle.
Mit der umjubelten Aufführung in Palermo - „Dreitausend Hörer wollten am Ende, eine Stunde nach Mitternacht, das Haus nicht eher verlassen, bis Mugnone [der Dirigent] mit dem noch anwesenden Teil des Orchesters und den überwiegend schon umgekleideten Sängern das ganze Finale wiederholte“ 5) - beginnt der Siegeszug von La Boheme.

5) Ernst Krause: Puccini. Beschreibung eines Welterfolges. Piper, München 1986

„Che gelida manina (Wie eiskalt ist dies Händchen)“ und „Si. Mi chiamano Mimi (Man nennt mich MimiJ“, das sind gleich im ersten Bild die weltberühmten Arien, mit denen sich Rodolfo (Alexandr Nesterenko) und Mimi (Alyona Rostovskaya) nahe kommen.
Noch 1896 folgen Erstaufführungen in Brescia, Bologna und Buenos Aires, ein Jahr später folgen Mailand, Venedig, Livorno, Alexandria, Moskau, Lissabon, Rio de Janeiro, Los Angeles und Den Haag. Ebenfalls 1897 erfolgen die Uraufführungen in englischer Sprache in Manchester und London, in deutscher Sprache in Berlin. 1898 folgt Paris, 1899 Sankt Petersburg, 1900 New York und 1901 Manaus (Brasilien). Bis heute gehört Puccinis Meisterwerk zu den meistgespielten Opern. Ob in der klassischen Zefirelli-Inszenierung der New Yorker Met oder einer Kartonkulisse in Wuppertal, ob inhouse oder open air auf der Seebühne in Eutin: Das Leben, die Liebe, das Lachen und Leiden der Künstler überträgt sich direkt auf die Zuschauer. Auf diese Weise werden sie ein unverzichtbarer Teil der Inszenierung.

Matthias Gerschwitz


DER SIEGELBEWAHRER

Welche Möglichkeiten bei der Berufswahl hat man wohl, wenn die Ahnenreihe voller Komponisten und Musiker ist? Schon früh steht fest, dass der am 22. Dezember 1858 in der Toskana geborene Giacomo Puccini, der nach allen seinen musikalischen Vorfahren „Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Maria“ getauft wird, gar nicht erst nach einem Berufswunsch gefragt wird, sondern als fünftes von sieben Kindern in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten und Organist werden soll. Doch manchmal geht das Schicksal ungewöhnliche Wege.
Als Puccini fünf Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Nun hat er eigentlich alle Freiheiten in der Berufswahl - aber er bleibt auf dem vom Vater vorgesehenen Weg. Bereits mit vierzehn Jahren spielt er in Kirchengemeinden der Umgebung seiner Heimatstadt Lucca die Orgel und trägt zum Familieneinkommen bei. Mit siebzehn fertigt er ein erstes symphonisches Präludium für die „Königin der Instrumente“ 1), ein Jahr später folgt das sicherlich nachhaltigste Erlebnis: Puccini besucht im 20 Kilometer entfernten Pisa die Oper Aida und ist so beeindruckt, dass er sich fortan der Opernkomposition widmen will. Verdi wird zu seinem großen Vorbild. Unterstützt durch einen reichen Onkel und ein Stipendium der italienischen Königin Margherita 2) nimmt er im Jahr 1880 das Studium am Mailänder Konservatorium auf. Dort teilt er sich eine Wohnung mit Pietro Mascagni, der später mit seiner Cavalleria rusticana nicht nur einen Welterfolg feiern, sondern auch die Stilrichtung des Verismo begründen wird. Mascagni ist das Studium auf Dauer aber zu trocken; er bricht ab und schließt sich einer fahrenden Operntruppe an.

1) So nannte der Schriftsteller Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, einmal die Orgel.
2) Fun Fact: Zu Ehren der Königin wurde 1889 eine Pizza in den Nationalfarben (dargestellt durch Basilikum, Mozzarella und Tomaten) „Pizza Margherita“ getauft.

Puccini hingegen hält durch und erhält 1883 sein Diplom. Auf Anraten seines Lehrers Amilcare Ponchielli verfasst er seine erste Oper, Le Villi, und reicht den Einakter bei einem Kompositionswettbewerb des Verlegers Edoardo Sonzogno ein; dieser legt mit seinen Wettbewerben die Grundlage für den Durchbruch des Verismo in der Oper - der Darstellung des wahren Lebens. Puccini allerdings hat 1883 kein Glück, die Oper wird nicht einmal erwähnt. Freunde des Komponisten, die von der Oper überzeugt sind, starten daraufhin erfolgreich eine Subskription, um Le Villi 1884 am Mailänder Teatro da! Verme herauszubringen, und sorgen für unerwartete Begeisterung bei Kritik und Publikum. Sein neuer Verleger Giulio Ricordi rät ihm, die Oper um mehrere Arien, Szenen und einen zusätzlichen Akt zu erweitern. Die ergänzten Teile gelten heute als Herzstück der Oper. Beflügelt durch den großen Erfolg beauftragt Ricordi den Komponisten mit der Oper Edgar, die aber bei der Premiere 1889 an der Mailänder Scala nur wenig Beifall findet.
Doch Puccini lässt sich nicht entmutigen. Für die nächste Oper wählt er einen Stoff, der bereits von Jules Massenet vertont und 1884 in Paris uraufgeführt wurde - den Roman „Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut“; Massenets Manon ist aber in Italien völlig unbekannt. Zudem hat er aus der Vergangenheit gelernt. Die Ablehnung von Le Villi beim Wettbewerb - angeblich wegen des Librettos -wie auch der Misserfolg mit Edgar bestärken ihn darin, zukünftig den Libretti mehr Aufmerksamkeit zu widmen. So gesellt er sich bei Manon Lescaut zu sieben weiteren Autoren - darunter auch sein Freund und Kollege Ruggero Leoncavallo. Trotz „vieler Köche“ erlebt die Uraufführung von Manon Lescaut am 1. Februar 1893 im Turiner Teatro Regio einen überwältigenden Erfolg.
Puccini nimmt das als gutes Omen. Auf den Tag genau drei Jahre später, am 1. Februar 1896, folgt am selben Ort die nächste Premiere. Aber La Boheme kann an den Erfolg von Manon Lescaut zunächst nicht anknüpfen. Der Durchbruch gelingt erst dreieinhalb Monate später in Palermo.
Damit aber hat sich Puccini etabliert. Seine nächste Oper, Tosca, präsentiert er am 14. Januar 1900 in Rom; sie avanciert zu einem gesellschaftlichen Großereignis, das vom Publikum geliebt, aber von der Kritik irritiert aufgenommen wird. Spätestens mit der Erstaufführung in Mailand am 17. März 1900 wandelt sich dann auch die Geschichte um Kunst, Liebe, Religion und Verschwörung zu einem dauerhaften Erfolg. Neben seiner Liebe zur Oper frönt Puccini noch einer anderen Leidenschaft, die ihn beinahe das Leben kostet: Der Freund schneller Automobile verursacht am 25. Februar 1903 einen Autounfall. Wohl aufgrund unangepasster Geschwindigkeit überschlägt sich sein Lancia auf einer Straße am Stadtrand von Lucca und landet im Graben. Seine Lebensgefährtin Elvira und der gemeinsame Sohn Antonio bleiben zum Glück unverletzt, Puccini jedoch bricht sich ein Bein. Doch noch am Unfallort denkt er bereits an sein nächstes Projekt und stöhnt: „Arme Butterfly“. 3)

3) Helmut Krausser: „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“. DuMont Verlag, München 2008.

Ob es am Unfall liegt, dass Madama Butterfly bei der Premiere am 17. Februar 1904 in der Mailänder Scala mit Pauken und Trompeten durchfällt - das Publikum begleitet die Aufführung mit Grunzen, Höhnen, Brüllen, Lachen, Kreischen und Schreien - ist nicht überliefert. Puccini trotzt dem Misserfolg, nimmt etliche Überarbeitungen vor und kann schließlich am 28. Mai 1904 im Teatro Grande zu Brescia triumphieren.
Das Privatleben überschattet seinen Erfolg. Die beständige und nicht immer unberechtigte Eifersucht seiner Lebensgefährtin Elvira, die er 1903 heiratet, lähmt ihn. Lange fehlt Puccini ein neues Opernthema, dabei hätte er zuhause eines finden können. 1908 kommt es zu einem Skandal, als Elvira ein Hausmädchen grundlos, aber öffentlich bezichtigt, sich mit ihrem Mann eingelassen zu haben - und diese, ganz in der Tradition der großen Oper, mit Schlaftabletten ihrem Leben selbst ein Ende setzt. Puccini stürzt in eine Beziehungs-, Lebens- und Schaffenskrise. Da wird er bei David Belasco, der schon die Originalvorlage für Madama Butterfly verfasst hatte, fündig. Der Schauplatz: Kalifornien. Das Setting: der Goldrausch. Die Heldin: eine Bardame. La fanciulla del West erlebt 1910 eine fulminante Uraufführung mit 55 Vorhängen an der Metropolitan Opera in New York.
Als nächstes widmet er sich einem weiteren in Paris angesiedelten Boheme-Stoff: La rondine. Aus Wien war das Angebot gekommen, für 300.000 Kronen plus Tantiemen zu arbeiten. Puccini befürchtet allerdings, man erwarte eine Operette - und in der Tat wird das Libretto zu Die Schwalbe von Alfred Maria Willner und Heinz Reichert 4) verfasst, denen man einen Hang zur Lehar'schen Leichtigkeit und den bewährten Operetten-Klischees nachsagt. Tatsächlich waren Puccini und Lehar aber eng befreundet und haben sich gegenseitig inspiriert - Kurt Tucholsky hat das wunderbar in dem Satz zusammengefasst: „Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehar ist dem kleinen Mann sein Puccini.“ 5) Aber das Projekt kommt zum Erliegen, der beginnende Weltkrieg wirft seine Schatten voraus. Puccinis Welt ist die Bühne - und sich nun politisch auf eine Seite schlagen zu müssen, fällt ihm schwer; schließlich hängen nicht nur seine Tantiemen davon ab. Letztlich entscheidet er sich für sein Vaterland und lässt die Arbeiten an dem deutschsprachigen Werk ruhen.

4) Willner und Reichert haben einzeln oder gemeinsam nicht nur für Franz Lehar (u. a. „Der Graf von Luxemburg“ und „Zigeunerliebe“),sondern auch für Emmerich Kaiman, Leo Fall, Johann Strauß und andere Komponisten gearbeitet.
5) Peter Panter: „Lehrir am Klavier“, in: „Die Weltbühne“, 25.08.1931

Minnie (Emmy Destynn), die die Bergleute anfleht, das Leben von Johnson (Enrico Caruso) zu verschonen, Schlussszene von „La fanciulla del West“, von Giacomo Puccini, aus „L'/llustrazione ltaliana“ vom 8. Januar 1911.
Bald jedoch ereilt ihn der Ruf nach einer italienischen Version, die entsprechend mit La rondine übersetzt wird. Das Libretto schreibt Giuseppe Adami, 6) der sich bei der deutschen Vorlage von Willner und Reichert bedient.

6) Giuseppe Adama schrieb für Puccini auch die Libretti zu „II tabarro“ und „Turandot“.


Puccini hatte 1909 Lehars Operette Die ideale Gattin im Theater an der Wien gesehen und war davon sehr beeindruckt; nun beeinflusst dessen Musik die Fertigstellung von La Rondine. Das fällt allerdings auch seinem Verleger auf, der das Werk geringschätzig als „schlechten Leh6.r“ bezeichnet. Dann versuchen auch noch die Franzosen, die Uraufführung zu verhindern; für sie ist La rondine immer noch ein von Österreich, dem Feind, in Auftrag gegebenes Werk. Trotz aller Widrigkeiten aber kann die Premiere am 27. März 1917 im Opernhaus des Kasinos von Monte Carlo stattfinden und das Publikum begeistern. Heute ist La rondine allerdings - wahrscheinlich auch wegen der besonderen Umstände - in den Hintergrund geraten.
La rondine ist die letzte seiner Opern, deren Uraufführung Puccini persönlich beiwohnen kann. Als II trittico (Das Tryptichon) am 14. Dezember 1918 in der New Yorker Metropo!itan Opera Premiere feiert, ist ihm so kurz nach dem Kriege die Anreise nicht möglich; sein letztes Werk Turandot bleibt unvollendet. Puccinis Sohn Antonio versucht Lehar dazu zu bewegen, das Fragment zu vollenden; schließlich spielt dessen Operette Die gelbe Jacke (Uraufführung 1923). die später in einer Überarbeitung als Land des Lächelns weltberühmt wird, ebenfalls in China. Lehar fühlt sich geschmeichelt - seine Operetten sind der klassischen Oper viel näher als das Genre vermuten lässt -, aber er winkt ab. Schließlich bekommt nach dem Tode Puccinis der italienische Komponist Franco Alfano den Auftrag, Turandot nach vorhandenen Skizzen und Aufzeichnungen fertig zu stellen. Als die Oper am 25. April 1926 in der Mailänder Scala Premiere feiert, ist Puccini schon siebzehn Monate tot. Seit 1922 hatte er an Halsschmerzen gelitten, die erst im Oktober 1924 als durch Kettenrauchen ausgelösten Kehlkopfkrebs diagnostiziert werden. Puccini reist sofort zu einer Radiumbehandlung nach Brüssel, doch es ist zu spät. Er stirbt am 29. November 1924 in einer Klinik der belgischen Hauptstadt.
Das Opernschaffen von Giacomo Puccini zählt gerade mal zwölf Werke in vierzig Schaffensjahren - und legt doch beredt Zeugnis von seiner Kunstfertigkeit und seinem Erfolg ab. Denn Puccini verdiente mit seiner Arbeit so viel, dass er das Leben (und noch mehr die Frauen) genießen konnte - und gilt heute nach wie vor als einer der Größten in der Opernwelt. Selbst Giuseppe Verdi, sein großes Vorbild, bezeichnete Puccini mit Hochachtung als „Siegelbewahrer der italienischen Melodie“.

Matthias Gerschwitz


DIE WAHREN BOHÈMIENS

Bei den Worten „La Boheme“ leuchten die Augen vieler Opernfans, denn sie verknüpfen den Begriff mit einer der meistgespielten Opern aller Zeiten, die selbst gestandene Männer mit ihrer anrührenden Geschichte von Liebe, Krankheit, Leidenschaft und Tod zu Tränen rühren kann. Dabei hatten die „Bohemiens“ einen eher zweifelhaften Ruf Sie waren nicht die intellektuellen Künstler, die man heute gerne darunter versteht, sondern Sinnbild des leichtlebigen und freizügigen Pariser Lotterlebens.
„Bohemien“ - was in der französischen Sprache so leicht und verlockend klingt, verliert schnell seine vordergründig positive Konnotation, wenn man sich des Ursprungs bewusst wird; zunächst war es schlicht die Bezeichnung für einen Bewohner Böhmens, später wurde der Begriff zum Synonym für Unbürgerliche, Nichtsesshafte und Abenteurer - oder kurz: für Sinti und Roma, geringschätzig auch als „Zigeuner“ oder fahrendes Volk bezeichnet. Sie sind für den braven Bürger zwielichtige Gestalten, bei denen niemand genau weiß, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Aber sie scheinen immer guter Laune zu sein, so dass die öffentliche Meinung zwischen Verachtung und Bewunderung schwankt. Erst später kennzeichnet der Begriff „Boheme“ das ungebundene und nichtbürgerliche Leben von Studenten und Künstlern. In den USA verwendet man als Gegenstück zum Establishment auch gerne den Begriff hobohemia. 1)

1) Richard Rodgers/Lorenz Hart, "The Lady Is a Tramp“: In der letzten Zeile der Vorstrophe heißt es „Bur social eire/es spin too fast forme/ My hobohemia is the place tobe“ (aus dem Musical „Babes in Arms“, 1937). Der Begriff entstammt einer Novelle von Sinclair Lewis aus dem Jahr 1917, in der er die unkonventionelle Boheme persiflierte, die sich in Greenwich Village, einer billigen Wohngegend New Yorks, niedergelassen hatte. Später wurde „hobohemic“ zur Definition einer Lebenseinstellung.

In der heutigen Definition nutzt der Schriftsteller Henri Murger den Begriff „Bcherne“ erstmals im März 1845. Bis zum April 1849 erscheinen in der Zeitschrift Le Corsaire Fortsetzungen seines Romans „Scenes de boheme“, in dem Murger Erlebnisse aus seiner Jugend bei den Buveurs d'eau - zu deutsch: „Wassertrinker“ 2) - im legendären Pariser Studenten- und Künstlerviertel Quartier Latin beschreibt. Viele der handelnden Figuren haben reale Vorbilder, mit manchen war der Autor sogar gut befreundet. Dabei sind die Figuren des Romans so austauschbar, dass Murger gelegentlich die Berufe seiner Protagonisten verwechselt. Aber das kümmert niemanden, denn sie alle sind unbekümmerte Jünglinge in der Adoleszenz ... nicht mehr ganz jugendlich, aber noch nicht ganz erwachsen. Ihre „Kunst“ ist die Lebenskunst, die an den seit der Revolution von 1789 abgeschafften Adelsstand erinnert: Bohemiens verbringen ihre Zeit mit Müßiggang, verträumten Tagen, rauschenden Festen und erotischen Nächten. Das Geld dafür borgen sie sich oder ziehen es nonchalant den Bewunderern ihrer Ungebundenheit aus der Tasche.

2) Bezeichnung einer Künstlerbewegung, die zu arm war, sich Wein leisten zu können. Die Gegenbewegung nannte sich „Les Hydropathes“ (etwa: „Die dem Wasser Abgeneigten“ - also jene, die Wein bevorzugten).

Bohemiens leben in den Tag hinein. Im Roman wird einer von ihnen, der erfolglose Schriftsteller Rodolphe, von seinem Onkel in der Dachkammer eingesperrt, um einen Text über die Kunst des Ofensetzens zu verfassen. Aber Rodolphe hat andere Interessen: Auf dem Balkon unter ihm sieht und hört er die schöne Sidonie, eine Sängerin, mit der er sogleich anbandelt. Er öffnet den Fußboden, um zu ihr herabzusteigen: erst zum Diner an den Tisch, dann in ihre Arme, und später in ihr Schlafzimmer. Überhaupt scheint das Boudoir der Fluchtpunkt der Bohemiens.

Heinz Schlaffer übertitelt seine Rezension der 2001 erschienenen deutschen Neuausgabe des Romans dann auch folgerichtig „Die Matratze der tausend Mimis“3, weist aber auch darauf hin, dass ein wesentlicher Teil unterschlagen wurde. Im Vorwort des Originals, das der deutschen Neuausgabe fehlt, bezeichnet Henri Murger seinen Roman als literarische Physiologie, ein Hinweis auf die - allerdings nicht ganz ernst gemeinte - soziologische Darstellung einer Lebensform, die dem normalen Bürger üblicherweise vorenthalten bleibt.

3) Heinz Schlaffer: „Die Matratze der tausend Mimis“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2001, Nr. 67, Seite L6

Fast wäre Murgers Sittengemälde an den Unbilden seiner Zeit gescheitert. Denn als der Autor die ersten Folgen veröffentlicht, sind die Leser zunächst nicht sonderlich angetan. „Verachtung bürgerlicher Werte, ein Leben für die Kunst, nicht fürs Geld, und freie Liebe“ 4) stoßen in einer Zeit, deren Devise „Bereichert Euch“ 5) heißt, auf wenig Interesse. Erst die Februarrevolution von 1848 ebnet der Darstellung des pittoresken Künstlerlebens den Weg. Aus dem Fortsetzungsroman wird ein erfolgreiches Bühnenstück („La Vie de Boheme“), das Henri Murger 1851 veranlasst, den Roman zu überarbeiten und ihn als Gesamtwerk, nun unter dem Titel „Scenes de la Vie de Bcherne“, neu zu publizieren. Daraus entsteht später La Boheme.

4) Ilja Stephan, „Diva stirbt im kalten Dachstübchen“, Hamburger Abendblatt, 25.01.2012
5) „Enrichissez-vous“, Fmncois Guizot (1787-1874, frz. Literat und Politiker)

Murger hat wenig davon; als Schriftsteller gerät er bald in Vergessenheit. Seine romantische Verklärung hat zwar der Boheme ein Denkmal gesetzt, aber weder die Literatur noch die Zeitgeschichte nachhaltig beeinflusst. Nur touristisch hält sie sich hartnäckig: Das Quartier Latin, das der Modernisierung der Stadt im 19. Jahrhundert trotzig widerstehen konnte, ist auch heute noch der Sehnsuchtsort, an dem Besucher der französischen Hauptstadt auf den Spuren von „Jugend, Genie, Kunst, Liebe und wenig Geld“ 6) wandeln- zumindest, solange sie nur fest genug daran glauben ...

6) Heinz Schlaffer: „Die Matratze der tausend Mimis“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2001, Nr. 67, Seite L6, 25.01.2012

Matthias Gerschwitz

 

Die Statuten des Boheme Club

„Die Statuten des Boheme Club“, Torre del Lago, Lucca, Toscana

Die Begeisterung für Murgers „Boheme“ machte vor Puccini und seinen damaligen KünstlerFreunden keinen Halt. Sie erklärten eine Hütte in der Nähe der Villa Puccini, wo er von 1901 bis 1921 lebte, zu ihrem Treffpunkt und nannen ihn „Club della Boheme“.
Boheme Club, Torre del Lago

STATUTEN:

  1. Die Mitglieder des Boheme-Klubs, getreu dem Geiste, in dem er gegründet wurde, geloben einander unter Eid, es sich wohl sein zu lassen und besser zu essen.
  2. Poker-Gesichter, Pedanten, schwache Mägen, Dummköpfe, Puritaner und andere Elende dieser Art sind nicht zugelassen und werden hinausgeworfen.
  3. Der Präsident wirkt als Vermittler; er hindert jedoch den Schatzmeister, das Mitgliedsgeld einzusammeln.
  4. Der Schatzmeister ist ermächtigt, sich mit dem Geld heimlich davonzumachen.
  5. Die Beleuchtung des Lokals hat durch eine Petroleumlampe zu geschehen. Wenn Brennmaterial fehlt, sind die Holzköpfe qer Mitglieder zu nehmen.
  6. Alle vom Gesetz erlaubten Spiele sind verboten.
  7. Schweigen ist verboten.
  8. Weisheit ist nicht arlaubt, außer in besonderen Fällen.

 

DAS POETISCHE HOHE C

Es ist wohl das poetischste hohe „C“ der Opernliteratur, das „la speranza“ (die Hoffnung), das Rodolfo in seiner berühmten Arie aus dem ersten Akt „La Boheme“ von Puccini in den Mond-Nacht-Himmel über die Dächer von Paris sendet.
Der viel zu jung verstorbene Tenor Fritz Wunderlich äußerte in einem seiner raren Interviews die Meinung, dass sich dieses „C“ so folgerichtig aus dem Verlauf der Opernfabel wie auch der musikalischen Linienführung ergäbe, dass dieser Spitzenton der am leichtesten zu bewältigende seines Repertoires sei: „ ... man macht den Mund auf, und der Ton ist einfach da ... !“
Und tatsächlich: Über der ganzen „Boheme“ Puccinis strahlt La Speranza, die Hoffnung, sie ist einfach da, und geheimnisvoll wirkt sie über den (Bühnen-) Tod hinaus. Die aktuell uns so erschreckende Prüfungszeit Corona-Pandemie zeigt: Die Erhaltung und Wiedergewinnung der Lebenskunst tut bitter Not! So ist die existenzielle Not dieser Studenten-Boheme Realität, also keineswegs pittoresk, auch wenn uns Puccini anfangs eine sehr heitere Grundstimmung vorgaukeln will.
Es sind schlichte und im Grunde alltägliche Charaktere, die für uns eine zeitlose Wirklichkeitsnähe gewinnen, gleichgültig, wann und wo diese Geschichte verortet wird. Im vierten Akt fasst Puccini das Geschehen zusammen und verdichtet es gleichsam in einer großen Stretta: Die Wahrheit bricht sich gnadenlos Bahn.

Derriere les ennuis et les uastes chagrins
Qui chargent de leur poids l' existence brumeuse,
Heureux celui qui peu! d' une aile vigoureuse
S' elancer uers les champs lumineux et sereins !
Celui dont les pensees, comme des alouettes,
Vers les cieux le matin prennent un libre essor,
Qui plane sur la uie, et comprend sans effort
Le langage des fleurs et des choses muettes !

(CHARLES BAUDELAIRE, Les fleurs du mal)

Weit hinter dir lass Kummer, Schuld und Streit,
Die dumpf und lastend dich zur Erde zwingen,
Beglückt, wer sich erhebt auf leichten Schwingen
Zu leuchtender Gefilde Heiterkeit'
Wessen Gedanken gleich der Lerche steigen
Des Morgens frohbeschwingt zum Firmament,
Wer überm Leben schwebt und mühlos kennt
Der Blumen Sprache und der Dinge Schweigen'

Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, (Erhebung)

Im schmerzvollen Grundton des Sehnsucht-Duettes zwischen Rodolfo und Marcello blitzt der wahre Status Quo auf. Eine scheinbar harmlose Kampfszene wird zum fast absurden Sinnbild des Überlebenskampfes. Liebe, die über den Tod hinausweist (Mimi: sempre, sempre = ewig, ewig), Glaube (das Gebet Musettas). Hoffnung (der auf das Wunder wartende und vor der Realität die Augen verschließende Rodolfo). die wissenden Freunde, schließlich der leise Tod Mimis ... Für einen Augenblick steht das Leben still, ewig gedehnte Schrecksekunde, die Zeit, die Lebenszeit zerrinnt uns unter den Händen, das Sterben ist vorbestimmt, ein Leben geht zu Ende; Illusion, der Tod lässt sich nicht aufhalten; dennoch, das Leben muss/wird weitergehen ...
Wir, die Zuschauer, sind nicht nur Zeugen: Eben haben wir noch mitgelacht, jetzt sind wir plötzlich mittendrin, betroffen, wir weinen, fühlen mit den Figuren dort auf der Bühne, erinnern plötzlich ähnliche, ja gleiche Empfindungen, die uns wie ein Sog hineinziehen in das Geschehen, spüren Mitleid, im Aufschrei Rodolfos Schrecken, aber gleichzeitig Sehnsucht nach Leben, Lieben und Geliebt-Werden. „Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes“.
Diese geheimnisvolle Liebe gibt uns in dieser extremen Todeserfahrung die Stärke zur Überwindung der Trauer, diese Stärke gibt uns die Kraft, neu zu hoffen, mit der neu keimenden Hoffnung die Verzweiflung über unser Ausgeliefertsein als Mensch zu ertragen und so, auf unerklärliche Weise getröstet, neuen Lebensmut zu schöpfen.
Lebenslüge? Nein. elementare Überlebensstrategie: Unser Bauen von Luftschlössern (castel!i in aria). das verzweifelte Anspielen des Menschen gegen das existenzielle Ausgeliefertsein, das ist großes Thema in La Boheme: Träume, Glück, Liebe, Tod und Teufel. Aber über allem schwingt und klingt die Hoffnung = La Speranza als unser aller hohes C: „Die Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des Lebens“ (Friedrich Nietzsche).

 

KRANKHEIT UND TOD ALS METAPHER

Nur wo Leiden ist, kann Leidenschaft entstehen. So oder so ähnlich scheint es im Lastenheft des Opernlibrettisten unter „Pflichtvorgaben“ vermerkt zu sein. Es gibt kaum ein Bühnengenre, an dessen Ende so viel und so emotional gelitten und gestorben wird wie in der Oper. Natürlich sind auch die Theaterbühnen voller Krankheiten und Todesfälle ... aber was kann schöner sein, als unter den Klängen eines Meisterkompositeurs zu vergehen oder gar das Zeitliche zu segnen? „Mit Musik geht alles besser“, weiß bekanntlich schon der Schlagerliebhaber. 1)

1) Lied aus dem UFA-Film „Sophienlund“ (1943), Regie: Heinz Rühmann. Musik: Werner Bachmann, Text: Erich Knauf.

Maria Stuarda wird geköpft, Tosca springt von der Engelsburg in den Tod, Gilda wird Opfer einer Verwechslung, die ihr Vater Rigoletto in Auftrag gegeben hat, Carmen wird aus verschmähter Liebe erstochen, Rusalka tötet ihren Prinzen mit einem Kuss, Gustav III. von Schweden muss nach dem Attentat auf dem Maskenball sein zweiwöchiges Sterben in fünf Arienminuten zusammenfassen - Besucher der Eutiner Festspiele 2019 werden sich erinnern. Aber diese Todesfälle beruhen auf Strafe, sind Tötungen aus Liebe oder schlichte Morde. Andere Leben enden als Folge eigener Taten oder Entscheidungen: Lucia di Lammermoor mordet selbst und verfällt daraufhin dem Wahnsinn, Aida begibt sich freiwillig in ihr Grab, um in den Armen des Geliebten zu sterben, Cio-Cio-San, die Madama Butterfly, stürzt sich aus Verzweiflung in den Dolch, Norma läutert sich selbst durch ihren Tod. Man könnte diese Liste unendlich weiterführen. In der Spielzeit 2015/2016 starb an der Bayerischen Staatsoper in 76% der gespielten Opern mindestens eine Person auf der Bühne. Der Kommentar dazu klingt etwas lakonisch und ein wenig desillusioniert: „Der Tod in der Oper ist, so es sich denn nicht um Komödien handelt, eigentlich an der Tagesordnung“. 2) Aber ist nicht gerade der Tod in der Oper Illusion und Moral zugleich? Gehärt das Sterben auf der Bühne nicht zum Kulturauftrag? Tritt Gevatter Tod nicht zu Recht in Erscheinung, um den Frevel, der sich als Betrug, Mord, Untreue oder unsteter Lebenswandel zeigte, zu rächen?

2) https://blog.staatsoperde/post/der-tod-in-der-oper.html

Kultur ist ein Spiegelbild der Zeit und ein offenes Geschichtsbuch, auch in medizinischer Hinsicht. Giovanni Boccaccio thematisiert in II Decamerone 1349 die Pest-1996 bringt Jonathan Larson mit seinem Musical Rent das Thema AIDS auf die Bühne. Dazwischen (und danach) lagen und liegen hunderte von Bühnenwerken, die sich um Leiden, Krankheit und Tod ranken. Manch ein Komponist sieht darin auch eine Art Vermächtnis: Death in Venice zum Beispiel ist Benjamin Brittens finales Werk.
Die Königsdisziplin des Sterbens in der Oper - das hat sie mit allen anderen Genres auf Bühne und Leinwand gemein - ist nach wie vor die unheilbare Krankheit. Sie verkörpert das Endliche, das Unausweichliche, das Unverrückbare ... und schafft auf die emotional höchstmögliche Weise Fakten. Was aber fasziniert Schriftsteller, Librettisten, Drehbuchautoren, Regisseure und Musiker an Krankheit oder Tod so sehr, dass sich diese Elemente wie ein roter Faden durch einen Großteil ihrer Werke ziehen? Der Wunsch nach medizinischer Aufklärung kann es nicht sein - eine Oper ist schließlich kein dokumentarisches Werk, ein Roman kein Fachbuch. Und trotzdem erzählt die Darstellung von Krankheit und Tod eine Geschichte über den jeweils zeitgemäßen Umgang damit - oder zumindest einen kleinen Teil davon.
Sowohl Violetta in Verdis La Traviata als auch Mimi in La Boheme werden von der Tuberkulose dahingerafft; dieses Schicksal ereilt auch Satine, die Hauptfigur des ebenfalls in der Pariser Boheme angesiedelten Musicals Moulin Rouge. 3) Tuberkulose, deren Erreger erstmals 1882 von Robert Koch beschrieben wurde, lässt sich bis etwa 500.000 v. Chr. zurückverfolgen, erreicht aber ab dem 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Doch schon in der veralteten Bezeichnung Schwindsucht liegt eine romantische Verklärung des äußerlichen Verfalls. Gebannt, ja gleichsam fasziniert wohnt man dem langsamen und unaufhaltsamen Verschwinden, der Geistwerdung als übernatürliches und unerklärliches Phänomen bei - glücklich, dass man selbst verschont bleibt. Dem Schreckgespenst „Krankheit“ wird ein modisches Mäntelchen übergestülpt, mit dem es sich in dekadenten und nichtbürgerlichen Kreisen wunderbar kokettieren lässt. Der Tod als ultimative Lust - bezeichnet der Franzose nicht schon den Orgasmus als „petit rnort“. als „kleinen Tod“? - oder Vollendung der Leidenschaft, hervorgerufen aber nicht durch Menschenhand, sondern durch göttliches(?) Schicksal (7), beflügelt die Phantasie. 4)

3) „Moulin Rouge“: Das Musical wurde 2018 uraufgeführt, basiert auf dem gleichnamigen Film von 2001 und ist eine inhaltliche Mischung aus u. a. „La Traviata“ und „La Boheme“.
4) Tuberkulose galt lange Zeit als „Krankheit der Arrnen“. da sie u.a. auch auf mangelnde Hygiene zurückgeführt wurde. 1882 entdeckte Robert Koch das die Tuberkulose auslösende Bakterium. Die ersten Immunisierungen erfolgten 1906, doch erst nach dem II. Weltkrieg kamen Medikamente auf den Markt. Hoffnungen, die Tuberkulose ausrotten zu können, erfüllten sich nicht: Seit 1993 flammt die Krankheit immer wieder auf.

Und immer steckt ein Stück Erotik darinnen, denn ewig lockt das Weib - und sei es durch die Zerbrechlichkeit aufgrund ihrer Gebrechen, die den Weg zur Läuterung ebnet. Mimi, die schon zu Beginn der Boheme einen Schwächeanfall erleidet, weckt in Rodolfo den Beschützerinstinkt, dem er aber durch fehlende Geldmittel für eine angemessene Behandlung nicht gerecht werden kann. Er übernimmt Verantwortung, indem er seine Geliebte freigibt. Violetta, die Traviata oder „vorn Wege Abgekommene“, nimmt durch den Tod die Schuld für ihr ausschweifendes Leben mit ins Grab und wird durch diese edle Handlung gleichsam glorifiziert - aus der personifizierten Sünde wird eine Art modernes „Agnus Dei“, die mit ihrem letzten Atemzug die Männer ihrer Umgebung erlöst. Das durfte der Zensur aus moralischen Gründen natürlich nicht gefallen.
Moral ist in der öffentlichen Wahrnehmung ohnehin eine nicht zu unterschätzende Triebfeder - und nicht selten wird aus einer Doppelmoral eine doppelte Portion Moral. So musste Verdi den ursprünglich vorgesehenen Titel Amore e morte („Liebe und Tod“) in La Traviata umändern; Violettas anrüchige Profession, die sie nach allgemeinen Moralvorstellungen „vorn Wege abbringt“, wird nur unterschwellig angedeutet, um Komplikationen zu vermeiden. Und 140 Jahre nach der Uraufführung von La Traviata muss Tom Hanks im Film Philadelphia sterben, weil er sich in einem schwulen Pornokino mit AIDS infiziert hat; eine andere Protagonistin, die sich bei einer Bluttransfusion gewissermaßen „politisch korrekt“ angesteckt hat, aber überlebt.
Und über allem thront die Musik. Egal ob Film, Oper oder Musical: Erst sie macht die Krankheit ebenso bedrohlich und geheimnisvoll wie emotional und eindringlich oder ätherisch schön. Sie entwickelt die Suggestiv kraft, eine Krankheit für die Zuschauer sichtbar zu machen, sie mitfühlen und mitleiden zu lassen. Die - zumeist - Sängerinnen sehen darin einen Auftrag: „Ich singe in der Met. Die Butterfly ... oder die Carmen. Das Publikum stöhnt und seufzt in tiefem Leid“, heißt es bei Irmgard Keun. 5) Mit Musik geht es wohl wirklich besser ...

5) Irmgard Keun: „Er liebt mich nicht - ich räche mich“, aus: Scherz-Artikel (Schleicher & Schüll, 1951)

Musik gibt einer Geschichte den Halt - aber eine gute Geschichte ist nicht auf eine Musikrichtung festgelegt. La Boheme ist eine gute Geschichte. Wäre es anders, wäre der Transfer in das New York der frühen 1990er-Jahre nicht möglich gewesen. Auch hier geht es um Armut, um Einsamkeit - insbesondere aber um den drohenden Verlust der Wohnung durch Mietschulden und Gentrifizierung. Jonathan Larson nennt sein Musical, das später auch verfilmt wurde, daher Rent (Miete). Die moderne Tuberkulose heißt AIDS, das mit Drogengebrauch und Homosexualität assoziiert wird. Aber anders als in La Boheme wird die Krankheit offen thematisiert und hängt wie ein Damoklesschwert über den Figuren. Marcello und Rodolfo werden zu Mark, einem Filmemacher, und Roger, einem HIV-positiven Musiker, die im East Village leben. Ihr Vermieter und früherer Mitbewohner Benny (bei Puccini: Benoit) ist durch Heirat zu Geld gekommen und will plötzlich Miete kassieren.
Musetta wird zur bisexuellen Maureen, Schaunard wandelt sich zu Angel, einer Drag Queen, die an den Folgen von AIDS sterben wird - und aus dem Philosophen Colline wird Tom Collins, ein schwuler Philosophieprofessor mit HIV. Mimi ist Mimi Marquez: Nachtclubtänzerin, drogenabhängig und ebenfalls mit HIV infiziert. Auch hier scheint sie dem Tod geweiht, doch sie findet ihren Weg zurück aus dem weißen Licht, weil ihr eine Vision der verstorbenen Angel den Auftrag gibt, zu Roger zurückzukehren und nicht aufzugeben.
Damit ist Rent - wie viele vom Thema AIDS geprägte Filme und Bühnenstücke jener Zeit - ein Hoffnungsträger. Nicht aufgeben!, heißt die Botschaft. Tragisch ist, dass der Autor Jonathan Larson zwei Wochen vor der Premiere im Alter von 35 Jahren stirbt und auf diese Weise weder den Erfolg des Musicals erlebt - Rent erringt 1996 insgesamt acht Auszeichnungen-, noch die im selben Jahr vorgestellte antiretrovirale Therapie, mit der man HIV zwar nicht heilen, doch erfolgreich behandeln kann. Bis dahin waren den Betroffenen allenfalls Hoffnung, Zusammenhalt und Solidarität geblieben, was ihnen - den Schwulen und Junkies als Mitgliedern der modernen „Boheme“ -von der (doppel)-moraldurchseuchten Gesellschaft allerdings zu oft vorenthalten worden war; sie waren darauf angewiesen, Kraft und Stärke aus der eigenen Community und aus sich selbst heraus entwickeln zu müssen. Unglaublich, dass sich das bis heute kaum geändert hat ... noch unglaublicher, dass es Teile der Gesellschaft ihnen heute sogar zum Vorwurf machen.
Krankheit als Metapher wurde in den späten 197oer-Jahren heiß diskutiert, denn im gleichnamigen Essay vertrat die US-amerikanische Publizistin und Schriftstellerin Susan Sontag die Ansicht, dass eine physische Krankheit wie Krebs ein psychisches Defizit, wie z. B. die Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, widerspiegele und damit selbst verschuldet sei. Allerdings musste sie sich später korrigieren. Beim Thema AIDS, dem sie sich 1989 unter demselben Aspekt widmete, kann sie diese Behauptung nicht aufrecht erhalten. 6) Verstorben ist Susan Sontag 2004 - an einer Krebserkrankung.

6) Susan Sontag: Illness as Metaphor. New York 1977 und 1978 bzw. Aids und seine Metaphern. Hanser, 1997.

Matthias Gerschwitz

 

LEBEMANN MIT GROSSER LIBIDO

„Meine Kerze ist erloschen.“ Es ist Mimis erste Szene ... und schon ein Vorgriff auf das, was den „La Boheme“-Besucher erwartet Am Ende wird auch ihr Leben wie eine Kerze verlöschen. Dass Mimi ein zartes und )engelsgleiches Wesen, eine „femme fragile“ ist - in der Buchvorlage ist sie noch eine „Grisette“ 1=, eine unverheiratete Frau mit geregelter Arbeit-, ist ein Einfall Puccinis. Frauen spielen in seinem Leben eine große Rolle, und von so ziemlich jeder ist ein Stück in seine Opernfiguren eingenossen.
Aber nicht alle sind tuberkulöse Geschöpfe - auf der Bühne finden wir auch „das trink- wie bibelfeste Cowgirl, die japanische Kindgeisha, die fehlgetretene Nonne [und die] männermordende China-Prinzessin.“2 Sie alle sind Heldinnen und zugleich Opfer. Schon die erste Frau in seinem Leben gehört dazu.

1) Der Begriff „Grisette“ leitet sich von Hüten aus grauem Stoff ab, die einfache Frauen trugen.
2) Manuel Brug: „Puccini: - Ein Lebemann mit großer Libido“, Die Welt, 24.02.2008

Giacomo Puccinis Mutter Albina ist eine starke Frau. Sie muss den frühen Tod ihres Mannes verkraften - er stirbt, als Giacomo fünf Jahre alt ist- und sich auch noch um sechs Töchter kümmern. Drei Monate nach dem Tod des Vaters kommt auch noch der zweite Sohn zur Welt. 1864 ist es für eine Frau nicht einfach, Familienvorstand zu sein - ihre Witwenpension ist zwar doppelt so hoch wie der durchschnittliche Monatslohn eines Handwerkers, 3) aber trotzdem ist sie auf die Unterstützung der Verwandtschaft angewiesen. Letztlich erweist sich Albina Puccini aber als geschickt genug, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Für Puccini ist das Opfer der frühen Witwenschaft die Heldin seiner Jugend - Mutter und Sohn verbindet eine besondere Beziehung. Als sie 1884 stirbt, Puccini ist erst 25 Jahre alt, hinterlässt ihr Tod seelische Wunden: „ .. ich denke immer an sie, und gestern nachts hat mir von ihr geträumt. Heute bin ich noch trauriger als sonst. Welche Erfolge mir die Kunst auch schenken mag, ich werde nie ganz zufrieden sein, weil mir meine liebe Mama fehlt.“ 4)

3) Dr. Georg Haiper: „Giacomo Puccini“ (https://austria-forum.org)
4) Eugenio Gara {Hrsg.]: „Carteggi pucciniani“. Mailand: Ricordi 1938, Nr.14 (zitiert nach Höslinger, 2003)

Zwar wird gelegentlich vermutet, dass Albina Puccini ihrem Sohn unbewusst psychische Kränkungen zugefügt habe, allerdings finden sich dafür nicht viele Belege. Dass sie sein Frauenbild geprägt hat, darf hingegen als sicher gelten. 5) Denn die Frau, mit der Puccini Jahrzehnte seines Lebens verbringt, ist ein Abbild seiner Mutter, auch wenn die Umstände ihres Zusammenkommens von einem Skandal geprägt sind.

5) Stefan und Gernot Demel: „Giacomo Puccini. Eine Psychobiographie“. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1995

1883 lernt Puccini Elvira Bonturi kennen, die Ehefrau seines Jugendfreundes Narciso Gemignani. Puccini soll ihr Gesangsunterricht geben, um ihre etwas laute und schrille - andere Quellen nennen sie metallisch und wollen darin die Inspiration zur Stimmfärbung der Turandot erkennen - Stimme zu schulen. 6) Dass seine neue Schülerin ausgesprochen attraktiv ist, bleibt Puccini, dem späteren „Lebemann mit großer Libido“ 7), nicht verborgen. Wie die beiden zueinander finden, ist nicht überliefert - „Möglicherweise trafen sich ihre Hände, wie die von Mimi und Rodolfo, allerdings nicht beim Suchen eines Schlüssels, sondern beim Umblättern der Noten“ 8) -, aber dass sie sich verlieben, ist ein Skandal. Im März 1886 wird Elvira von Puccini schwanger, im Juli verlässt sie ihren Mann und ihren Sohn, nimmt ihre Tochter und zieht mit Puccini nach Mailand, um mit ihm in wilder Ehe zu leben. Im Dezember kommt der gemeinsame Sohn Antonio zur Welt. Elviras größter Antrieb, zur alleinigen Muse ihres Mannes zu avancieren, erfüllt sich allerdings nicht. Tatsächlich wird sie später einmal behaupten, seiner Arbeit nichts abgewinnen zu können ... Musik nicht zu lieben oder ihr gleichgültig gegenüber zu stehen - aber das ist nur vorgeschoben. Denn sie liebt ihn wegen seiner Musik, aber sieht darin auch eine permanente Bedrohung: Je tragischer das Frauenschicksal, desto verführerischer die Musik - und es kann ihr nicht verborgen bleiben, dass sich Puccini für Libretti und die darin vorkommenden Frauen mehr erwärmen kann als für sie. 9) Giampaolo Rugarli vermutet in seinem Buch „Die göttliche Elvira“, dass Puccini mit seiner Musik eigentlich dem Idealbild einer Frau hinter herjagt, wohl wissend, dass er es nie erreichen wird.
Elvira wäre gerne dieses Idealbild, ist es aber nicht."? Dafür hat sie mit der wirtschaftlich schwierigen Situation zu kämpfen. Hatte ihr Ehemann Narciso ihr noch die bodenständige Sicherheit eines Handelsreisenden bieten können, steht die Situation bei Puccini anfänglich auf tönernen Füßen: Die erste Oper, Le Villi, war ein Erfolg gewesen, die zweite, Edgar, dagegen nicht. Elvira fordert Sicherheit und Zuwendung, Puccini tut das als „launisch“ und „anspruchsvoll“ ab; ihre Stärke erscheint ihm als Widerspenstigkeit. Glaubt man Rugarli, soll Elvira einen schlechten Charakter gehabt haben, soll misstrauisch, autoritär und unflätig gewesen sein. Definitiv aber ist sie eifersüchtig auf seine Eskapaden, die ihre Beziehung und sie selbst bedrohen.

6) Lina-Eugenie Ivchenko: „Die Frau im Schaffen Giacomo Puccrrus“, Diplomarbeit an der Universität Wien, 2013
7) Manuel Brug: „Puccini - Ein Lebemann mit großer Libido“, Die Welt, 24.02.2008
8) Lina-Eugenie Ivchenko: „Die Frau im Schaffen Giacomo Puccinis“, Diplomarbeit an der Universität Wien, 2013
9) Lina-Eugenie Ivchenko: „Die Frau im Schaffen Giacomo Puccinis“, Diplomarbeit an der Universität Wien, 2013
10) Giampaolo Rugarli: „La divina Elvira. L'idea!e femmini!e nella vita e nell 'operc di Giacomo Puccini“. Venedig 1999

Mit der Geburt seines Sohnes verändert sich Puccinis Verhältnis zu Elvira: Aus der Geliebten wird eine Mutter - und damit nach südländisch-katholischem Verständnis eine Heilige, eine Unantastbare. Daraus zieht er die Legitimation seiner Affären. „Er brauche die von ihm als >piccoli giardini< [kleine Gärten] bezeichneten Abwechslungen, um sich als Künstler entfalten zu können“ 11), heißt es - wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Puccini braucht eher die Bestätigung als Mann, denn er ist „introvertiert und im menschlichen Zusammenleben eine eher unsichere Persön!ichkeit“. 12) Später, als ihm die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, wird als weitere Kompensation noch der Rausch der Geschwindigkeit hinzukommen: Puccinis Liebe gilt schnellen Autos und ebensolchen Motorbooten.
Bemerkenswert ist, dass es sich bei seinen Affären zumeist um Frauen niederer Stellung handelt, die sich ihm unterordnen, die ihm das Gefühl geben, der starke Mann zu sein. Sie sind das Gegenteil der starken Mutter und der starken Lebensgefährtin, sie stellen keine Fragen, sie mucken nicht auf, sondern ergeben sich dem Maestro in großer Bewunderung.13

11) Michael Horst: „Der Frauenversteher" in: Deutsche Oper Magazin, Berlin
12) (Februar- Juli 2015)
13) vgl.: Mosco Carner: „Puccini: Biografie“. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1996

Kein Wunder, dass nur wenige seiner Liebesabenteuer ernsthaft gemeint und von Dauer sind. Eine Begründung seiner wechselnden Affären könnte sein, dass sich Puccini in seiner Partnerschaft allein fühlte, allerdings verbirgt er dieses Gefühl geschickt nach außen. 14) Aber es muss zwischen Puccini und Elvira ein starkes Band gegeben haben, denn trotz aller Affären hätte er niemals die Beziehung und das damit verbundene „traute Heim“ in Frage gestellt. So merkwürdig es klingen mag: Manche Männer brechen nur aus, um zurückkommen zu können ...
Wie viel von den Frauen, die in seinem Leben eine Rolle spielen, tatsächlich in seinen Opernfiguren zu entdecken ist, bietet genügend Raum zur Spekulation. Anna (Le Villi) wird von ihrem Verlobten für eine andere verlassen wird und stirbt aus Gram, ihre Seele aber wird zur Rächerin, weil sie sich mit den Elementargeistern im Stile einer Undine 15) verbündet. Steckt darin etwas von seiner Mutter, die vom frühen Tode ihres Mannes zwar getroffen wird, sich aber zu einer starken Frau wandelt? In seiner nächsten Oper Edgar (1889) gibt es gleich zwei konkurrierende Frauenfiguren: Fidelia - der Name („die Treue“) alleine spricht schon Bände - und Tigrana, die sich als unheilvolle, schlechte Verliererin erweist. Steckt in Letzterer etwa etwas von Elvira? Und selbst ihrem Ehebruch - Elvira verließ bekanntlich ihren Mann für den Komponisten - wird Puccini am Ende seines Schaffens ein musikalisches Denkmal setzen: II tabarro aus dem 1918 uraufgeführten Zyklus II trittico ist die tragische Geschichte eines älteren Mannes, dessen junge Frau fremdgeht, und die mit Mord endet.

14) Stefan und Gernot Demel: „Giacomo Puccini. Eine Psychobiographie“. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1995
15) Wasserwesen aus dem gleichnamigen Kunstmärchen von Friedrich de la Motte Fouque aus dem Jahr 1811

Die meisten Frauenfiguren in Puccini-Opern sind als Gegenentwurf zu Mutter und Lebensgefährtin angelegt. Sie sind geduldig, aufopfernd und sensibel; sieben von zwölf Heldinnen sterben, gedemütigt im Leben, gedemütigt durch den Tod. Und alle sind irgendwie verstoßen - ein Gefühl, das Puccini und Elvira seit dem Skandal, der ihrem Zusammenkommen folgte, gut kennen. Nur: Während sie Eifersucht empfindet, bringt er Verständnis für seine Figuren auf. Und noch etwas ist in seiner Sicht auf Frauen verwunderlich: Seine Affären sind schnell und nebensächlich, aber seine Heroinen stellt er voller Bewunderung auf ein Podest. „So unterschiedlich ist es im menschlichen Leben“, hätte Kurt Tucholsky kommentiert.
Die meisten seiner „Nebenfrauen“ bleiben namenlos. Ausgerechnet aber eine der bekanntesten von ihnen ist nicht einmal eine Affäre: Mit der Engländerin Sybil Seligman, die er 1904 kennenlernt, hat er zwar (angeblich) nur einmal geschlafen, aber sie wird über zwanzig Jahre lang seine Vertraute, Seelenfreundin, Ratgeberin und Muse.
1908 lernt er in Berlin die Ungarin Blanka Landvai kennen. Es dauert einige Zeit, bis sie endlich zusammenfinden, doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo. Im Gegensatz zu der bayerischen Baronin Josephine von Stengel, der er 1911 in Viareggio begegnet. Sie bringt alles mit, was den Maestro fasziniert: „Sie liebt ihn zärtlich und voller Bewunderung, optimal für den Egozentriker Puccini. Sie lebt getrennt vom eigenen Ehemann und praktischerweise meistens in Italien. Die Baronin spricht fließend italienisch, spielt elegant Klavier, schätzt Puccinis Opern“. 16) Und sie liebt Wagner. So kommt es, dass sich am 7. August 1912 zum Besuch des Parsifal der „Kaufmann Archimede Rossi aus Viareggio mit Begleitung“ ins Gästebuch des Bayreuther Hotels Goldener Anker einträgt.
Falsche Namen, falsche Orte, falsche Identitäten: Puccini muss ein Doppelleben führen, um nicht von Elvira ertappt zu werden. Und er hält lange durch: Mindestens fünf Jahre verbringen „Giacomucci“ (oder schlicht „Mucci“) und „Iosi“ gemeinsam; mit Beginn des Weltkriegs verlegen sie ihr Liebesnest in die Schweiz. Aber auch ihr kann der Komponist nicht treu bleiben; nebenbei führt er einen erotischen Briefwechsel - mit Blanka Landvai. 17) So viel also zum „Intermezzo“ ...

16) Sylvia Schreiber: „>Josi< in Bayreuth“, BR Klassik, 06.08.2014
17) Peter Southwell-Sander: „The Illustrated Lives of the Great Composers“, Omnibus Press 1996

Obwohl es für einen Komponisten naheliegt, sind nur wenige Affären mit Sängerinnen überliefert. Helmut Krausser 18) berichtet von Liebesbriefen, die Puccini an die Sopranistin Gilda Dalla Rizza geschrieben haben soll. Sie singt die Hauptrolle bei der Uraufführung von La rondine, aber als Puccini sie erstmals in La fanciulla de! west hört, weiß er endlich, für wen er die Rolle der Minnie eigentlich geschrieben hat. Ob sie ihm auf seine Briefe geantwortet hat, ist allerdings unbekannt.
Nur zwei Frauen können dem Maestro wirklich gefährlich werden - und jede auf eine andere Weise. Kurz vor der Uraufführung von Tosca am 14. Januar 1900 in Rom lernt er auf einer Bahnfahrt von Turin nach Mailand eine junge Frau kennen, die lange als geheimnisvolle Corinna bezeichnet wurde, aber tatsächlich Maria Anna Coriasco heißt. 19) 20) Puccini ist vom ersten Augenblick an von ihrer Unbekümmertheit fasziniert; er beginnt einen Briefwechsel und verabredet sich mit ihr für den Nachmittag des 14. Januar. Aber es soll noch acht Tage dauern, bis „seine Männlichkeit auf dem Prüfstand“ steht. 21)

18) Helmut Krausser: „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“, DuMont 2008
19) Helmut Krausser: „Die Jagd nach Corinna“. Eine Puccini-Recherche. München: belleville 2008
20) Der Name Corinna leitet sich wahrscheinlich aus der Zusammen2iehung von Cori-asco und A-nna ab.
21) Helmut Krausser: „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“, DuMont 2008 Peter Southwell-Sander: „The Illustrated Lives of the Great Composers“, Omnibus Press 1996

Dann aber verdreht die 18-jährige Näherin Puccini endgültig den Kopf; er erlebt bislang ungekannte erotische Wonnen, mit denen er - zum Missfallen seiner Umgebung - nicht hinterm Berg hält. Drei Jahre lang geht die Affäre, dann fährt sein Verleger zur Beendigung der Liaison schweres Geschütz auf. Er ist um Ruf (und Einnahmen) so besorgt, dass er sogar Puccinis Lieblingsschwester Ramelde um Intervention bittet. 22) Schließlich willigt der Maestro ein, aber nun weigert sich Maria Anna und fordert stattdessen die Ehe ein. Es bedarf weiterer neun Monate harter Arbeit, eines alten Freundes und zweier Anwälte, bis eine verträgliche Lösung gefunden wird:
Maria Anna wird angemessen abgefunden, Puccini heiratet die kurz zuvor verwitwete Elvira. Für den Komponisten und Frauenversteher muss diese Lösung wie eine Strafe für seine Affären wirken, tatsächlich aber hat er sich nach mittlerweile zwanzig Jahren an Elvira als Frau an seiner Seite gewöhnt und wüsste gar nicht mehr, ohne sie auszukommen. Elvira selbst wähnt sich endlich am Ziel: Mit dem wohlklingenden Nachnamen dürfte ihr kein Frauenzimmer mehr ins Gehege kommen.
Weit gefehlt - aber den nächsten Skandal verschuldet Madama Puccini dann doch selbst. 1908 beschuldigt sie das Hausmädchen Doria Manfredi, ihrem Mann nachzustellen, und überzieht sie in aller Öffentlichkeit mit Verdächtigungen und Beleidigungen. Obwohl Doria nichts Unrechtes getan hat, weiß sie keinen anderen Weg, als durch eigene Hand aus dem Leben zu scheiden. Es mutet wie ein Treppenwitz der Musikgeschichte an, dass ausgerechnet im Hause Puccini die große Oper real und nicht im Libretto stattfindet. Weniger prosaisch allerdings sind die Folgen: Da Elvira mit ihrer Eifersucht endgültig den Bogen überspannt hat, bricht Pucccini den Kontakt ab und denkt sogar über eine Trennung nach. Dank der Fürsprache enger Freunde kann sich das Paar wieder versöhnen. Trotzdem bleibt ein Schatten auf der Beziehung. Am 6. Juli 1909 wird Elvira Puccini vor Gericht gestellt und zu fünf Monaten Zuchthaus und 700 Lire Strafe verurteilt. Da Puccini sehr vermögend ist, kann er durch eine Zahlung von 12.000 Lire 23) an die Hinterbliebenen seiner Ehefrau die Haft ersparen. Diese soll übrigens später eine Cousine Dorias ins Haus aufgenommen haben, die dann auch tatsächlich eine Affäre mit dem Hausherrn hatte - aber das hat Elvira nie bemerkt.

22) Peter Southwell-Sander: „The Illustrated Lives of the Great Composers“, Omnibus Press 1996


Alle Frauen in Puccinis realem Leben und seinen Opern haben mindestens zwei Seiten. Nur eine nicht: Mimi in La Boheme. Und deshalb ist sie in all ihrer Zerbrechlichkeit - neben Liu aus Turandot -vielleicht Puccinis stärkste und auch ehrlichste Frauenfigur. Mimi ist das fehlende Puzzlestück zu Rodolfos Glück: „Ihre Ankunft vervollkommnet unsere lustige Gesellschaft.“ 24) Sie spielt nicht; sie gibt nicht vor, jemand anders zu sein; sie ist ehrlich. bleibt sich treu, liebt bis zur Selbstaufgabe und weckt in Rodolfo jenen Instinkt, den wohl auch Puccini nach dem Tode seines Vaters zwanzig Jahre lang für seine Mutter empfunden haben mag - aber Rodolfo kann Mimi nicht retten, er kann nicht verhindern, dass ihre Kerze endgültig verlöscht. Die Tragik: Weder der fünfjährige noch der fünfundzwanzigjährige Puccini hätten das gekonnt ....

23) Nach heutiger Kaufkraft betrügen die Zahlungen etwa € 6.000 bzw. € 100.000.
24) La Boheme, Zweites Bild, Im Cafe: Rodolfo stellt Mimi seinen Freunden vor

Matthias Gerschwitz


EIN KOMPONIST VON SCHNULZEN?

Puccini leidet unter zwei Vorurteilen: Seine Musik sei zu populär, und er hantiere nur mit billigen Effekten, um sein Publikum zu manipulieren. Ihm wird vorgeworfen, er schreibe eigentlich >nur< Filmmusik, obwohl diese Genre damals gar nicht exisitierte.
Generationen von Filmkomponisten haben sich aber seitdem seine Melodik, seine harmonische Sprache und seine Orchestrationskunst angeeignet. Es ist schwer, heutzutage Puccinis Musik zu hören, ohne gleichzeitig die der tausenden Nachahmer im Ohr zu haben. Aber selbst zu seiner Lebenszeit war er der Kritik, vor allem aus akademischen Kreisen, ausgesetzt, er wäre nicht modern genug, er suche nur die Gunst des Publikums, er beinflusse die Emotionen auf gerade unmoralische Art und Weise - bestimmt war da eine gute Portion Neid von seinen weniger erfolgreichen Kollegen dabei! Faszinierend ist es, wie Puccini die intimsten Gefühle auf der große Bühne mit einem riesigen Orchester überzeugend präsentiert. Zuvor waren große operatische Emotionen entweder heroisch (Beethoven, Verdi) oder mythologisch (Wagner); stark und sicherlich beeindruckend, aber nicht die tiefsten, innerlichsten, natürlichen Emotionen, von den das Verismo lebt. Es gibt zwar noch Arien, Duette und Ensembles, aber sie sind in einem musikalischen Fluss so eingebettet, dass man nicht mehr weiß, wo genau sie beginnen oder aufhören. Und er erreicht dabei eine Flexibilität weit weg von den Versen eines traditionellen Librettos, und viel näher an einer natürlich gesprochenen Unterhaltung.
Selbst in der berühmtesten Arie von La Boheme - „Che gelida manina“ von Rodolfo - gibt es drei Tonartwechsel, sechs Taktwechsel und siebzehn Tempowechsel, ohne dass das Publikum etwas davon merkt.
Die Partituren von Puccini sind Meisterwerke. Kein anderer Komponist hat je so detaillierte und präzise Anweisungen gemacht und erklärt. Fast jeder Ton in der Partitur (und es gibt mehr als 150.000 davon) ist mit Artikulationszeichenversehen: staccato, tenuto, Verbindungsbogen, Akzente usw. Innerhalb der gegebenen Tempozeichen (z.B. Allegro vivace, Andante mesto) gibt es unzählbare Variationen, alle Arten von ritenuto, rallentando, accellerando, affrettando, aber auch incalzando, allargando, trattenuto, perdendosi, strappate, sostenendo ....

„Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehàr ist dem kleinen Mann sein Puccini.“
Kurt Tucholsky, 1931 in der „Weltbühne“

Dadurch hat Puccini das ganze Spektrum von lustiger oder unwesentlicher Konversation bis hin zu extremen Ausbrüchen tiefster Emotionen in seiner Macht.
Noch eine weitere besondere Begabung hatte Puccini: ein unfehlbares Gefühl für Zeitabläufe. Genauer als bei jedem anderen Opernkomponisten wusste er, wie viel Zeit er für jede Aktion einplanen musste. Er hatte offensichtlich seine Opern auch bildlich präzise im Griff, und es ist bezeichnend, wie oft er nach den Premieren seiner Bühnenwerke kleine und große Änderungen vornahm, um die Strukturen zu straffen und Leerlauf zu exzidieren.
Er war der meisterhafteste Orchestrierer seiner Generation - es gibt Farben und instrumentalische Kombinationen in seinen Opern, die niemand vorher erfunden hatte-, und er hatte die unbezahlbare Gabe, aus einer emotionsgeladenen Phrase ein riesiges Ensemble zu bauen, das eine ganze Szene definiert. Nicht unbedingt Verismo im strengen Sinn, aber purer Puccini.
Wie kam es also zu den genannten Vorurteilen gegenüber Puccini? War es eine Reaktion der protestantischen Nordeuropäer, die es unsittlich fanden, blanke Emotionen ohne die intellektuellen Strukturen eines klassischen Hintergrunds (deutsche Oper) oder die strenge Versstruktur einer opera lirica darzustellen? Oder waren es Generationen von Sängern und Dirigenten, die die äußerst genauen Vorgaben von Puccini unterschätzten und getrost ignorierten, wodurch aus diesen fein austarierten Werken undifferenzierte Emotionsbäder entstanden?
In einer modernen Zeit, wo die Unterhaltungsmusik sich nicht mehr mit dem Vokabular von Puccini artikuliert, haben wir endlich die Möglichkeit, ihn mit offenen Ohren neu zu erleben - und herauszuhören, dass vielleicht doch ein Genie der Opernkunst am Werk war.
Hilary Griffiths


„LA BOHÈME“ AM CAMPINGPLATZ

Genau 50 Jahre nach der bisher einzigen Inszenierung von „La Boheme“ steht Puccinis Meisterwerk zum zweiten Mal auf dem Programm der Eutiner Festspiele. Sechs Aufführungen in deutscher Sprache waren 1971 vom 17. Juli bis 15. August angesetzt, im Spielplan umrahmt von Webers „Freischütz“ und Donizettis „Liebestrank“.
Die musikalische Leitung damals hatte Erwin Jamrosy, der 1951 an der Seite von Kurt Brinck mit Webers Der Freischütz die Tradition der Freilichtoper in Eutin begründet hatte. Regie führte Ulrich Wenk, der nach Brincks Tod von 1968 bis 1983 die Intendanz bei den damaligen Eutiner Sommerspielen übernommen hatte.
Wenk war im Hauptberuf Regisseur an der Hamburgischen Staatsoper und nutzte seine dortigen Verbindungen wirkungsvoll für die Sommeroper am Großen Eutiner See. Einer der Sänger, die er aus der Hansestadt mit nach Eutin brachte, war der Bariton Franz Grundheber. Er hatte gerade die ersten Stufen seiner späteren Weltkarriere erklommen, die ihn an alle bedeutenden Opernhäuser der Welt führen sollte und 1986 in Hamburg mit dem Titel Kammersänger geadelt wurde.
Grundheber, mittlerweile 83 Jahre alt, erinnert sich noch lebhaft an die Eutiner Boheme. „Es war sehr spannend, wie Ulrich Wenk das konzipiert hat, quasi als Spiel im Bühnenspiel. Wir Sänger betraten die Bühne als Urlauber auf einem Campingplatz.
Damit wir uns da nicht langweilen, schlägt einer vor, dass wir einfach mal La Boheme nachspielen könnten. Die Art, wie Wenk uns an der Regiearbeit beteiligt hat, war ganz wunderbar, das hat viel Spaß gemacht.“
Die Premiere fand trotz anfänglich strömenden Regens beim Publikum eine überaus freundliche Aufnahme. Die Kritik lobte die „gelungene Modernisierung“ einer Oper, die eigentlich nur auf einer Guckkastenbühne mit naturalistischer Grundhaltung wirksam sei, hier aber dank „Ulrich Wenks überlegener Künstlerpersönlichkeit auf der Freilichtbühne überzeugend gestaltet worden sei.“
Wie überzeugend die Verlegung des eigentlichen Boheme-Schauplatzes von Paris auf einen Campingplatz im Grünen war, bewies die vom Ostholsteiner Anzeiger überlieferte Reaktion des Kieler Staatssekretärs Reinhold Borzikowsky bei der Premiere: „Unerhört! Wie rücksichtslos!“ regte er sich darüber auf, dass zum zweiten Akt ein offensichtlich zu spät gekommenes Pärchen mit einem roten Sportwagen direkt an die Bühne heranfuhr und beim Aussteigen die Türen laut zuklappte. Doch dann griffen die beiden als Musette und ihr Galan Alcindor singend ins Geschehen ein - und der Staatssekretär verstummte.
Grundheber gab in Eutin sein Rollendebüt als Marcel, eine Rolle, „die ich immer gern gesungen habe“. Ebenso habe er bei den Sommerspielen jahrelang erstmals die Partien angenommen, die er darauf auch an großen Häusern verkörperte. Eutin hat einen festen Platz in seinem Gedächtnis: „Das schönste Bühnenbild bleibt der Baumbestand mit dem See im Hintergrund. Toi, toi, toi für die neue Boheme!“

Hartmut Buhmann

Informationen

Musikalische Leitung: Hilary Griffiths
Inszenierung: Prof. Igor Folwill
Kostümbild: Martina Feldmann
Bühnenbild: Jörg Brombacher
Licht: Rolf Essers
Produktionsleitung: Anna-Luise Hoffmann
Chorleitung: Sebastian Borleis
Korrepetitor: Francesco de Santis
Regieassistenz/Inspizienz: Susanne Niebling
Ton: Christian Klingenberg
Maske: Marlene Girolla-Krause
Requisite: Susanne Boschert
Dramaturgie Matthias Gerschwitz

Orchester: Kammerphilharmonie Lübeck (KaPhiL!)
Chor: Chor der Eutiner Festspiele

Aufführung in italienischer Sprache.

Hinweis: Die historischen Texte und Abbildungen dieser Rückschau (bis in die 1950er Jahre) stammen aus den jeweiligen Programmheften und Fotosammlungen und spiegeln ihre Zeit. Sie könnten Begriffe und Darstellungen enthalten, die heute als diskriminierend oder unangemessen gelten. Die Eutiner Festspiele distanzieren sich daher ausdrücklich von solchen Inhalten. Auch die Erwähnung teils umstrittener Persönlichkeiten erfolgt ausschließlich im historischen Zusammenhang. Der digitale Rückblick soll Geschichte transparent machen und zur kritischen Auseinandersetzung mit Sprache, Haltung und Zeitgeschehen anregen. Wo erforderlich, ergänzen wir erläuternde Hinweise. Hinweise auf sachliche Fehler oder notwendige Kontexte nehmen wir gerne unter entgegen.