
Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ trägt den Untertitel „Tragedia giapponese“ – und diese Tragödie beginnt für die blutjunge Japanerin „Madama Butterfly“, als sie den Amerikaner Pinkerton kennenlernt: Sie wird dem Marineoffizier zu seiner Unterkunft bei Nagasaki gleich mit zur Verfügung gestellt. Die kleine „Frau Schmetterling“ fühlt sich zu dem schneidigen Militär hingezogen, der aber nimmt sie nicht wirklich als fühlendes Wesen wahr. Für ihn ist sie ein exotisches Abenteuer, sie wird zur Verschmähten und Verächteten.
Eine tragische Handlung ganz im griechischen Sinne, denn die Personen haben keine Wahl – sie müssen ihren vom Schicksal gezeichneten Weg bis zum Schluss gehen. Und das Publikum kann gar nicht anders, als mitzufühlen, mitzulieben und mitzuleiden. Puccinis kompositorisches Können hatte bereits mit „Madama Butterflys“ Vorgängerinnen "Tosca" und "La Bohème" das Publikum in seinen Bann geschlagen. Durch Puccinis intensive Auseinandersetzung mit der japanischen Musik und die Einflüsse von Wagners „Tristan“ erhält „Madama Butterfly“ bisher unbekannte Akzente. Puccini setzt zusätzlich Zitate aus anderen Stücken ein, die seine Oper für geübte Hörer mit Subtexten bereichern.
Puccinis Oper erlebte ihre Premiere 1904 in Italien, einer Zeit, in der sich die wirtschaftlich prosperierenden Industriestaaten dem asiatischen Raum weit überlegen fühlten. Ein Amerikaner in Nagasaki konnte sich daher gebärden wie eine Kolonialmacht persönlich. Diesen „Cultural Clash“ fängt Pucchini ein, indem er zwei musikalische Sphären aufeinandertreffen und neben den Referenzen an westliche Hörgewohnheiten auch fernöstliche Klänge in die Melodik einfließen lässt. Möglich wurde ihm das, weil er auf europäische Notensammlungen transkribierter japanischer Melodien zurückgreifen konnte.
Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Puccinis Meisterwerk bei den Eutiner Festspielen auf dem Programm steht: Erstmals wurde es 1999 aufgeführt. Zur 71. Saison im kommenden Sommer wird es zum zweiten Mal den Spielplan der Seebühne bereichern. Die Inszenierung in der italienischen Originalversion übernimmt Prof. Igor Folwill; die musikalische Leitung hat Hilary Griffiths.
Handlung
1. Akt:
Leutnant Benjamin Franklin Pinkerton, Offizier der US-Marine, sucht in der Nähe von Nagasaki, wo sein Schiff vor Anker liegt, ein kleines Haus, in dem er ungestört Zeit mit seiner Geisha Cio-Cio-San, seinem Schmetterling („Butterfly“), verbringen will. Dafür geht er sogar eine „Ehe auf Zeit“ ein, die er allerdings nur als unterhaltsame und exotische Affäre ansieht. Der US- Konsul Sharpless will ihn vor diesem Schritt warnen, doch Pinkerton macht sich darüber lustig und erhebt lachend sein Glas auf den Tag, an dem er eine „echte“ Hochzeit, dann aber mit einer Amerikanerin, feiern wird.
Die 15-jährige Cio-Cio-San dagegen, Tochter einer vornehmen, aber verarmten Familie, kann ihr vermeintliches Glück kaum fassen, sie sieht in der Ehe den Beginn einer ernsthaften Verbindung. Aus Liebe konvertiert sie sogar zum Christentum. Daraufhin wird sie von ihrer Familie verstoßen. Pinkerton gelingt es nur schwer, seinen Schmetterling zu trösten.
2. Akt:
Drei Jahre sind seit der Abreise Pinkertons vergangen. Cio-CioSan, mittlerweile Mutter eines kleinen Sohns, wartet unbeirrt mit ihrer treuen Dienerin Suzuki auf die Rückkehr ihres Ehemanns. Sie fühlt sich als verheiratete Frau, sie fühlt sich als US-Amerikanerin - deshalb schlägt sie auch den Heiratsantrag des reichen Fürsten Yamadori aus. Als Konsul Sharpless ihr eine Nachricht Pinkertons überbringt, ist sie glücklich und aufgeregt. Ihre lang gehegte Hoffnung wird wahr, ihr Ehemann, der Offizier, wird wiederkommen! Sharpless, der gar nicht wusste, dass Cio-Cio-San ein Kind von Pinkerton hat, verschweigt ihr bestürzt, dass Pinkerton mittlerweile mit der Amerikanerin Kate verheiratet ist. Cio-Cio-San schmückt mit Suzuki das Haus, legt ihr Hochzeitskleid an und erwartet ungeduldig die Rückkehr des Mannes, den sie liebt.
3. Akt:
Cio-Cio-San verschläft das Eintreffen Pinkertons, der vom Konsul begleitet wird. Suzuki begrüßt die Ankömmlinge und erfährt den wahren Grund für die Anwesenheit des Offiziers: Sie soll Cio-Cio-San überreden, ihren Sohn an seinen Vater herauszugeben. Als dieser von der unerschütterlichen Treue Butterflys erfährt, dämmert ihm, was er angerichtet hat. Reumütig und feige zugleich stürzt er davon. Als Cio-Cio-San ins Zimmer tritt und Kate Pinkerton erblickt, werden ihr schlagartig die zusammenhänge klar. Großmütig und edel willigt sie ein, das Kind übergeben zu wollen - aber nur an Pinkerton selbst. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn, bittet um einen Moment des Alleinseins, und greift mit den Worten: „Ehrenvoll sterbe, wer nicht länger mehr leben kann in Ehren“ zu jenem Dolch, mit dem bereits ihr Vater seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.
ERST SKANDAL, DANN WELTERFOLG
Der Abend stand unter keinem guten Stern. Wahrscheinlich hatte sich das verwöhnte Mailänder Publikum unter Puccinis Oper Madama Butterfly, die am 17. Februar 1904 in der Scala uraufgeführt wurde, etwas ganz Anderes vorgestellt.
Schon während der Aufführung ist es unruhig, Zuschauer kommentieren lautstark einzelne Szenen und sorgen auf diese Weise für kollektive Heiterkeit. Grunzen, Höhnen, Brüllen, Lachen, Kreischen und Schreien begleitet die Sänger. Claqueure leisten ganze Arbeit, die Stimmung eskaliert - das ehrwürdige Teatro alla Scala gleicht einem Hexenkessel. Der Höhepunkt: eine Kakophonie von Tiergeräuschen.
„Das hat die Opernwelt noch nicht erlebt“, schreiben die Zeitungen anderntags. Es ist der größte Theaterskandal aller Zeiten. Giacomo Puccini, der mit Manon Lescaut, La Boheme und Tosca rauschende Erfolge gefeiert hat, wird in Grund und Boden gestampft. Sein neuestes Werk ebenso .1) Dabei hatte er alles richtig gemacht. Anlässlich der britischen Tosca-Erstaufführung im Sommer 1900 besucht er im Londoner Duke of York's Theatre eine Aufführung von Madame Butterfly - eine japanische Tragödie des US-amerikanischen Autors David Belasco. 2) Auch wenn seine Kenntnisse der englischen Sprache nicht ausreichen, um die Worte zu verstehen, rührt ihn die Geschichte an: Die verzweifelte Liebe der jungen Geisha Cio-Cio-San 3) zu einem leichtlebigen und selbstsüchtigen amerikanischen Marineoffizier, die mit ihrem Selbstmord endet.
Das Jahrhundert ist noch jung. Die industrielle Revolution, wirtschaftliche Umbrüche, demographische Verschiebungen und nicht zuletzt die steigende Präsenz der Presse haben das Blickfeld erweitert. Der eigene Horizont genügt nicht mehr; das Interesse am Neuen, am Unbekannten wächst. Das Bedürfnis nach Unterhaltung, die Lust an der Sensation kann von der immer noch latent vorhandenen Furcht vor dem Fremden nicht mehr unterbunden werden. Schaulust und Voyeurismus, bislang das zweifelhafte Vorrecht der Unterprivilegierten, werden auch in traditionsbewussten Kreisen salonfähig. Den Blick über Länder- und Kulturgrenzen hatten auch schon Oper und Operette gewagt: Mozarts Entführung aus dem Serail („ >Alles wird dieses Jahr türkische, sagt mein Coiffeurcc 4), Verdis Aida oder Rossinis L'Italiana in Algerie überschreiten die jeweiligen Landesgrenzen. Franz Lehar (Land des Lächelns) und Paul Abraham (Blume von Hawaii) tun es ihnen gleich. Immer muss man feststellen, dass eine Beziehung zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist.
1) Der Musikdramaturg Ivo Zöllner mutmaßt, dass der Misserfolg u. a. ein bestellter Skandal von Puccinis größtem Konkurrenten Pietro Mascagni gewesen sein könnte, oder dass Puccini zu vorhersehbar - bzw. für andere Kritiker zu modern - gearbeitet habe. Zudem habe sich der italienische Dirigent Arturo Toscanini kritisch zur Überlänge des 2. Aktes geäußert: „Bei Wagner ja - bei Puccini nein.“ Quelle: Werkeinführung zu „Madame Butterfly“, TfN Theater für Niedersachsen, Hildesheim, 28.03.2016
2) Das Theaterstück von David Belasco /1853-1931) basiert auf einer gleichnamigen Kurzgeschichte von John Luther Lang, die sich an Pierre Lotis Roman „Madame Chrysuntherne“ orientiert, den wiederum der französische Komponist Andre Messager namensgleich als lyrische Oper vertonte (Uraufführung 1893).
3) japanisch: „Frau Schmetterling“, englisch: „Burterfly“
4) Zitat aus dem Film „Arncdeus“ von Mi los Forman (1984)
Auch Japan als Ort der Handlung ist nicht neu. William Schwenck Gilbert und Arthur Sullivan hatten schon 1885 mit der „Comic Opera“ 5) Der Mikado 6) einen Ausflug ins Land der aufgehenden Sonne unternommen. Allerdings haben Inhalt und Setting mit Japan nicht viel zu tun, wie der Leserbrief eines japanischen Besuchers der Hamburger Aufführung an eine dortige Zeitung belegt. 7)
5) Das Werk von Gilbert & Sullivan würde man nach heutiger Definition eher dem Operettengenre zurechnen.
6) „Mikado“ ist eine andere Bezeichnung für den japanischen Herrscher („Tenno“)
7) „Denn ich kann als Japaner versichern, dass das Stück viele und große Irrtümer beinhaltet...“ Quelle: „Musical World“ vom 18. September 1886, abgedruckt im Journal der deutschen Sullivan-Gesellschaft Nr. 4, 2010
Puccini erkennt in Cio-Cio-San eine Seelenverwandte seiner Mimi aus La Boheme. Das ist der Stoff, den er lange gesucht hat. Nachdem Belasco seine Zustimmung gegeben hat - der Verlag erteilt die Vertonungsrechte erst im März 1901-, beauftragt Puccini seine Stammschreiber Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, mit denen er schon erfolgreich bei La Boheme und Tosca zusammengearbeitet hatte, mit dem Libretto. Angesiedelt wird die Oper im Nagasaki der Jahrhundertwende; damit gehört sie neben II tabarro zum Verismo, der als Gegenwarts- oder auch als zeitgenössische Thematik verstanden werden kann.
Auch wenn es eine italienische Oper werden soll, achtet Puccini bei Komposition, Arrangement und Instrumentierung auf japanische Akzente. Um Authentizität zu gewährleisten, lässt er sich von einer japanischen Schauspielerin, die gerade in Italien gastiert, beraten. Weiterhin erzählt ihm die Frau des japanischen Botschafters von einer Geisha, der Cio-Cio-Sans Geschichte tatsächlich widerfahren ist; zudem unterrichtet sie ihn auch in japanischen Volksliedern. Das verhindert aber nicht, dass sich chinesische Einflüsse in die Komposition mischen. 8) Ist das vielleicht schon ein Vorgriff aus Puccinis letzte Oper Turandot? Am 27. Dezember 1903 ist die Oper fertig. Aus einem Theater- Einakter ist eine Oper in zwei Akten geworden. Puccini ist mit sich und seinem Werk zufrieden.
8 )„Tatsächlich sind zwei der Schlüsselmelodien der Partitur - die eine ist eng mit Butterfly verbunden und die andere erklingt, wenn ihr Vater und dessen Selbstmord erwähnt werden - an chinesische Volkslieder angelehnt. Mit diesen Melodien in Berührung gekommen war Puccini höchstwahrscheinlich durch eine in der Schweiz hergestellte Spieluhr, die mehrere chinesische Weisen enthielt und für den Export nach China bestimmt wur.“ Quelle: „Puccini Handbuch“ (Hrsg. Richard Eskens), S.150 - Verlag]. B. Metzler 2017
Und dann dieses Fiasko] Mailand ist wohl doch nicht so weltoffen wie erhofft. Japan ist weit weg. Nagasaki liegt in einer anderen Welt. Und die Musik klingt fremd. Puccini bleibt erstaunlich gelassen. Er trotzt dem Debakel: „Mit traurigem, aber unerschüttertem Gemüt teile ich Dir mit, dass ich gelyncht wurde' Diese Kannibalen hörten sich keine einzige Note an. Welch eine hasstrunkene Orgie des Wahnsinns! Aber meine Butterfly bleibt, was sie ist: die gefühlteste, ausdrucksvollste Oper, die ich je geschrieben habe! Ich werde noch gewinnen ... „, notiert er.
Und er handelt. Aus zwei Akten werden drei, der Auftritt der Titelfigur wird musikalisch verändert und für Pinkerton - den amerikanischen Offizier - schreibt er eine neue Arie, der man Einsicht und Reue über sein Tun entnehmen kann. Zu guter Letzt fügt Puccini zwischen dem 2. und 3. Akt noch ein Zwischenspiel ein - den „Sumrnchor“ (Voci misteriose a bocca chiusa). Und sein trotziges „Ich werde noch gewinnen ... „ bewahrheitet sich. Die Neufassung wird bei der erneuten Uraufführung am 28. Mai 1904 im Teatro Grande zu Brescia zum umjubelten Erfolg, Madama Butterfly startet einen triumphalen Siegeszug durch viele Länder.
Neben der mitreißenden Geschichte der Oper ist es vor allem Puccinis Musik, die Opernbesucher bis heute zu Tränen rührt. Der Komponist wächst über sich selbst hinaus, wenn er japanische Kultur und Tradition durch eine strenge vierstimmige Fuge definiert oder die Leichtfertigkeit und Selbstverliebtheit Pinkertons durch das Zitat eines amerikanischen Marinemarschs verdeutlicht. Was Puccini nicht ahnen konnte: 1931 wird dieser Marsch The Star-Spangled Banner zur offiziellen Nationalhymne der USA erklärt.
Ohne den Verriss der Mailänder Uraufführung wäre Madama Butterfly vielleicht in der Versenkung verschwunden, erst die Korrekturen verhelfen der Oper zu einem bis heute ungebrochenen Erfolg. Trotzdem kann der Komponist froh sein, dass es zu seiner Zeit das Internet noch nicht gab. Ein Shitstorm nach heutigem Muster hätte ihn womöglich dazu veranlasst, das Komponieren aufzugeben - was aber nicht geschah. Die Opernwelt kann sich also glücklich schätzen.
Matthias Gerschwitz
DIE JAPANISCHE TRAGÖDIE
Giacomo Puccini hat seine Oper „Madama Butterfly“ selbst als „Tragedia giapponese“ bezeichnet, als „japanische Tragödie“ - und auch die Vorlage von David Belasco trägt den Titel „A Tragedy of Japan“. Professor /gor Folwill, Regisseur der diesjährigen Eutiner Inszenierung, sieht sogar Parallelen zur klassischen griechischen Tragödie.
Herr Professor Folwill, zu Beginn sollten wir vielleicht Begriffe klären. Was verstehen Sie unter Tragödie?
Die Tragödie ist eine Form des Dramas, und gemeinsam mit der Komödie das wohl am häufigsten gespielte Genre im Sprech- und Musiktheater. In Europa ist uns naturgemäß die griechische Tragödie vertrauter, aber die formalen Unterschiede zum japanischen Pendant sind gering. Kennzeichnend ist beiden der schicksalhafte Konflikt der Hauptfigur, der zwar nicht unbedingt mit dem Tod enden muss. aber die Situation für den Helden oder die Heldin unausweichlich verschlechtert - er bzw. sie ist zum Scheitern verurteilt. Der Grundgedanke der Tragödie ist. dass der Mensch glaubt, durch sein Handeln dem ihm vorbestimmten Schicksal entgehen zu können - aus reiner Selbstüberschätzung. aus Hybris.
Zuschauer lassen sich gerne von menschlichen Schicksalen faszinieren. Was übt bei der Tragödie einen so großen Reiz aus, dass sie uns in ihren Bann zieht?
Ein zentrales Definitionselement der Tragödie ist tatsächlich die Wirkung auf den Zuschauer. Tragödie bedeutet ja nicht, dass das Publikum Zeuge von etwas „Traurigern“ wird - das wäre dann ein Trauerspiel-, sondern dass es miterlebt, mitfiebert und mitleidet, wie der Held oder die Heldin „schuldlos schuldig“ ein Opfer der Umstände wird und aus einer zuvor großen Höhe kommend sich „auf dem Boden der Tatsachen“ wiederfindet. Dieser Weg - das Miterleben einer Fallhöhe - ist durchaus ein Faszinosum.
Was zeichnet die Tragödie aus?
Hier scheiden sich ein wenig die Geister. Hegel z.B. stellt nicht den Helden in den Mittelpunkt, sondern die Kollision zwischen Handlungsabsicht und Wirkung. Aristoteles definiert die Tragödie als Zusammenspiel zwischen „eleos“ (Mitleid), „phobos“ (Schrecken) und „Katharsis“ (innere Reinigung oder Läuterung). Mittlerweile geht die moderne Forschung aber davon aus, dass es nicht „Schrecken“, sondern „Furcht“ ist, was die Tragödie antreibt. In der Praxis lebt die Tragödie davon, dass nicht nur der Held oder die Heldin, sondern auch das Publikum durch ein Wechselbad der Gefühle gehen. Die Sympathie für die Hauptfigur nährt sich aus der Furcht vor dem unausweichlich nahenden Ende, das man eigentlich lieber nicht erleben möchte. Und so finden wir erstaunlicherweise gerade in der Tragödie komödiantische Momente, die die Spannung zumindest für einen Moment lösen.
Wenn wir ehrlich sind, wird das Publikum doch gar nicht unvorbereitet mit dem Ende konfrontiert ...
Das ist einer der häufigen Wesenszüge der Tragödie. Weiß das Publikum, was am Ende passiert, kann es den Weg dorthin mitverfolgen - wie bei einem Krimi, wenn der Zuschauer den Mörder schon kennt und den Kommissaren bei der Arbeit zusieht. In der Tragödie aber erhöht das die moralische Wirkung: Trotz des Wissens um das Ende hofft der Zuschauer insgeheim bis zum Schluss, dass alles noch gut ausgehen möge. Im Prolog von Shakespeares Romeo und Julia wird ja auch schon verkündet, dass die Liebenden sterben werden - der Spannung und Dramatik des Stücks tut dies aber keinen Abbruch.
Worin liegt Ihrer Meinung nach die Tragik der Butterfly - der Figur Cio-Cio-San?
Dazu muss man ein wenig in die japanische Kultur eintauchen. Nach wie vor unterscheiden sich die fernöstliche Kultur und der Lebensstil deutlich von ihren westlichen Pendants. So hat z. B. vor einiger Zeit die japanische Regierung einen „Minister für Einsamkeit“ berufen, um die soziale Isolation vieler Bürger, vor allem aber der Bürgerinnen, zu reduzieren. Japan ist das Land mit einer sehr hohen Selbstmordrate. Japaner tendieren also in schwierigen Lebenssituationen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Suizid als Bürger der westlichen Hemisphäre - aber nicht als letztes Mittel, als Schuldeingeständnis oder als Flucht.
Hier ist der Selbstmord ein Weg, Verantwortung zu übernehmen und um Vergebung zu bitten. Er ist tief in der japanischen Kultur verankert. Man denke an das mit dem Ende der Samurai-Herrschaft 1868 abgeschaffte „Harakiri“ (Aufschlitzen des Bauchs), auch als „Isame Fuku“ (Suizid als Protest) bezeichnet - wobei „Harakiri“ eine verunglimpfende Wortschöpfung christlicher Missionare ist - im Christentum gilt Selbstmord als Sünde - in der japanischen Kultur nicht. Deshalb würde es zum Beispiel so etwas wie verschämte „Selbstmörderecken“, die wir von christlichen Friedhöfen kennen, in Japan niemals geben.
Was bedeutet diese Tradition für die Butterfly?
Cio-Cio-San bleibt am Ende kein anderer Ausweg als der Suizid. Sie hat alles, was Pinkerton ihr gesagt hat, für bare Münze genommen. Das gebieten ihr ihre Wertvorstellungen, schließlich entstammt sie einer - wenn auch verarmten - adligen Familie. Deswegen hält sie auch all die Jahre des Wartens durch, hält all die Jahre an ihrer Ehe fest ... immer in der Erwartung, dass ihr Ehemann eines schönen Tages („Un bel di“) zu ihr zurückkehrt ...
. . . was der amerikanische Offizier aber gar nicht vorhat. ..?
Pinkertons Rückkehr nach Nagasaki ist rein touristischer Natur, wie er den amerikanischen Konsul Sharpless in einem Brief wissen lässt. Da schreibt er auch, wie er die „kleine Butterfliege“ sieht: als Zeitvertreib, mit der er „ein bisschen verheiratet“ war. Als Sharpless daraufhin Cio-Cio-San über die wahren Gründe von Pinkertons Besuch aufklären will, findet er sich zwischen allen Stühlen wieder: Er muss feststellen, dass sie fest in ihren Wertvorstellungen verhaftet ist und sich nicht beirren lässt, daran festzuhalten. Und mehr noch: Es gibt ein Kind, von dem weder er noch Pinkerton wussten.
Welche Rolle spielt das Ehrverständnis in dieser Oper?
Oft wird Cio-Cio-Sans Selbstmord als Reaktion darauf interpretiert, dass sie enttäuscht wurde, dass sie einer Lebenslüge aufgesessen ist. Tatsächlich aber liegt die Tragödie darin, dass sie darauf beharrt, mit ihrer Erwartungshaltung im Recht zu sein - und nun vom Schicksal einfordert, was ihr ihrer Meinung nach zusteht. Sie ist eben nicht das kleine „Hascherl“, das Pinkerton in ihr vermutet hat; ihr Selbstmord ist ein Zeichen innerer Stärke.
Hier wandelt sie auf den Spuren ihres Vaters, der auch selbst Hand an sich gelegt hatte. Und mit diesem Wissen verstehen wir Butterflys letzten Satz über die Ehre viel besser - und erst recht den Aufschrei Pinkertons, der zu spät erkennt, dass er mit seinem oberflächlichen und unehrenhaften Verhalten ein Rad in Bewegung gesetzt hatte, das er nicht mehr aufhalten kann. Es ist zu spät für diese Erkenntnis, es ist zu spät für eine wie auch immer geartete Reue. Pinkerton, der starke, selbstbewusste Offizier wird nun mit seiner schnöden Selbstüberschätzung leben müssen ...
Das Gespräch führte Matthias Gerschwitz.
EHE MIT VERFALLSDATUM
Die Handlung in „Madama Butterfü1“ renektiert die Lebensumstände in Japans Hafenstädten im späten 19. Jahrhundert nach deren Öffnung für Militärschiffe anderer Staaten.
Seit 1603 waren Fremde im Land der aufgehenden Sonne größtenteils unerwünscht; seine Machthaber wollten mit dieser Isolationspolitik verhindern, dass religiöse und wirtschaftliche Einflüsse aus anderen Kulturen das traditionelle Gefüge in dem Inselreich verändern (jap. sakoku, wörtlich Landesabschließung). 1853 durchbrach ein amerikanisches Flottengeschwader die Abschottung und erzwang ein Abkommen, das Japan erstmals wieder für Handel und Reisen aus dem Westen zugänglich machte.
Diese politische Kehrtwende erfolgte vor dem abschreckenden Beispiel der Kolonialisierung und des Machtverfalls in China. Japans Obere forcierten dagegen den Plan, sich die neuen Technologien aus Europa und USA zunutze zu machen. Durch wirtschaftliche Prosperität und militärische Stärke wollten sie für die eigene Vorherrschaft in Asien sorgen. Der Bevölkerung wurde sogar geraten, sich westliche Sitten und Moralvorstellungen anzueignen, um so schnell wie möglich für den kulturellen Wandel gerüstet zu sein.
Der amerikanische Schiffsarzt Samuel Pellman Boyer wurde damals Zeuge, wie ein westlicher Seemann und eine japanische Prostituierte (musume) an Land ein halbwegs geordnetes Verhältnis eingehen konnten. In seinem Erfahrungsbericht, in Buchform unter dem Titel Naval Surgeon - Revolt in Japan 1868 - 1869 publiziert, schilderte er anschaulich diese Hochzeit auf Japanisch.
Der entsprechende Auszug aus Boyers Buch:
Man mietet eine musume und gibt ihr vier Dollar, womit sie beim japanischen Zollhaus in Yokohama eine Lizenz kauft, die sie berechtigt, für einen Monat meine Gefährtin zu sein, und die ihr auch ein tägliches Bad in einem öffentlichen Badehause erlaubt. Man mietet ein Häuschen für 25 Dollar und eine Dienerin für 10 Dollar, und dann genießt man in Sicherheit die Annehmlichkeiten einer Ehe - für 39 Dollar pro Monat.
Wenn das Mädchen dir gefällt, verlängerst du den Vertrag. Wird sie treu sein, wenn man nicht da ist? Ja, ganz bestimmt' Wenn sie gefasst wird, hast du nämlich das Recht, sie vor einen japanischen Gerichtshof zu bringen, wo sie eine gehörige Tracht Prügel erhält. Wenn du darauf bestehst, wird sie verkauft und muss als gewöhnliche Prostituierte zehn Jahre lang arbeiten ...
Eine musume zu sein, ist nicht unehrenhaft in Japan. Wenn sie genug gespart hat, wird ihr Vermittler sich nach einem guten Manne für sie umsehen. Dies ist ein alter Brauch in den ärmeren Klassen Japans. Die musumes sind sehr wohlerzogen und sehr angenehme Maitressen.
-bu
Quelle: Programmheft Theater Magdeburg 2000/2001, „Puccinis japanische Tragödie“ von Dietmar Holland.
„ABENDLAND, MORGENLAND“
Der kulturelle Austausch zwischen Japan und der westlichen Welt beginnt etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar berichtet Marco Polo schon Ende des 13. Jahrhunderts über die Insel Zipangu, wie Japan während des Mittelalters genannt wurde - aber da er nie dort gewesen war, ist sein Bericht eine eigenwillige Mischung aus den verschiedensten Versatzstücken. 1)
1) Quelle: Dissertation Mariko Takagi, „Formen der visuellen Begegnung zwischen Japan und dem Westen - Vom klassischen Japonismus zur zeitgenössischen Typographie“, Hochschule für Bildende Künste Braun-schweig, 2012, S. 32 f
Die einzig bekannte europäische Handelsbeziehung zu Japan unterhalten die Niederlande, wenn auch nur in geringem Umfang. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts starten die ersten deutsch-japanischen Beziehungen in der Medizin; Anfang des 19. Jahrhunderts entstehen Medizinschulen, in denen ausschließlich europäische Medizin gelehrt wird ... allerdings von japanischen Medizinern, die ihren Lehrstoff aus europäischen Büchern beziehen.
Lange gilt Japan als weißer Fleck auf der internationalen Seekarte. Es gibt so gut wie keine Außenbeziehungen, erst recht keine Vereinbarungen - nicht einmal, was die Versorgung der die Küste passierenden Schiffe oder die Aufnahme von Schiffbrüchigen betrifft. Das Land lebt abgeschieden und völlig autark. Zwar hatten in den 184oer Jahren verschiedentlich amerikanische Schiffe japanische Häfen angelaufen und um Verhandlungen zur Aufnahme von bilateralen Beziehungen ersucht, aber die Missionen waren immer wieder gescheitert. Daher beauftragt der amerikanische Präsident Millard Fillmore (1800-1874) im Frühjahr 1852 den Kapitän Matthew Calbraith Perry (1794-1858), die Öffnung des Landes zu erzwingen. Am 8. Juli 1853 übergibt Perry dem Gouverneur von Uraga einen Brief mit den Forderungen seines Präsidenten. Der Gouverneur bittet um Aufschub, Perry reist ab - aber nicht ohne die Androhung, bei seiner Rückkehr die Hafenstadt Edo zu beschießen, sollten die Forderungen nicht akzeptiert werden. Die Warnung hat Erfolg: Am 31. März 1854 wird ein Handelsvertrag geschlossen, der US-Schiffen die Häfen öffnet. Zugleich wird ewiger Frieden und ständige Freundschaft zwischen beiden Nationen festgeschrieben. 2)
2) Quelle: H. H. Vianden: „Japan im Zeichen der Meiji-Reformen“, in: „300 Jahre deutsch-japanischer Beziehungen in der Medizin“, herausgegeben von Ernst Kraas und Yoshiki Hiki, S. 36 ff, Springer Verlag Tokio 1992
Damit wird Japan auch für europäische Partner zugänglich. Louis Kniffler eröffnet 1859 das erste deutsche Handelshaus in Japan; 1861 vermittelt der preußische Graf von Eulenburg einen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen beiden Staaten. Daraufhin entwickelt sich die Beziehung so schnell, so blitzartig, dass sich der Westen geradezu die Augen reibt. Neugier, Staunen, Bewunderung, aber auch Furcht kennzeichnen die Annäherung. „Japonismus“ greift in einem Maße um sich, das man bisher nur von der „Chinoiserie“ kannte, die von Versailles über Sanssouci bis nach Schönbrunn und darüber hinaus ihre Spuren hinterlassen hatte. 3) Das Bild Japans wird aber vom westlichen Blickwinkel dominiert. Japaner erkennen sich darin nicht wieder.
3) Quelle: Peter Pantzer: „Japonismus in Europa:Japanbegeisterung zwischen Kunst und Kuriosität“, Abs. 3 und 4, in: EGO - Europäische Geschichte Online, www.ieg-ego.eu
Reiseschriftsteller wie Heinrich Schliemann und Reisemaler wie Eduard Hildebrandt (1818-1868) oder Carl Wuttke (1849- 1927) liefern das Bild des exotischen Landes frei Haus. Und damit auch die Sujets für Madame Chrysantheme oder Madame Butterfly. Japanische Traditionen, japanische Zeremonien, die überbordende Höflichkeit, die viel zu oft als Unterwürfigkeit missverstanden wird - sie alle eröffnen der Alten und der Neuen Welt, aus der sich „der Westen“ zusammensetzt, neue Themen. Die klare Formensprache und der Minimalismus stellen einen Kontrapunkt zu eher verspielten und überladenen europäischen Stilarten wie Historismus, Neoklassizismus oder Jugendstil dar. Europäische Künstler können sich kreativ daran reiben.
Japan hält Einzug in die Kultur: Ein häufiges Motiv ist die Geisha - jenes schöne, unbekannte, unnahbare Wesen, das im westlichen Bild mit Dienstleistungen aller Art (Teezeremonie, Massagen, aber auch sexuellen Dienstleistungen) in Verbindung gebracht wird, obgleich sie - wörtlich übersetzt - eine Person der Künste ist, eine Unterhalterin, eine Bewahrerin der traditionellen japanischen Kunstfertigkeit, aber auch eine Trendsetterin in Stil- und Modefragen. Kaum vorstellbar, dass der Beruf der Geisha bis ins 17. Jahrhundert ausschließlich Männern vorbehalten war! Sie wurden von Edel-Prostituierten zur Unterhaltung der Freier angeheuert, um deren Wartezeiten in den Rotlichtvierteln mit Gesang, Tanz und Konversation zu verkürzen. 4) Auch im ersten bekannten Film über Japan, Beautiful Japan aus dem Jahr 1918, werden „Geisha girls“ porträtiert, die westliche Besucher anlässlich des Kirschblütenfests mit traditionellen Riten und Tänzen unterhalten. Im Anschluss an die Darbietung reißt einer der Besucher eine Geisha an sich und tanzt ausgelassen mit ihr, während die anderen gute Miene zum westlichen Spiel machen; die Übergriffigkeit symbolisiert allerdings die abendländisch geprägte, sexuell konnotierte Interpretation der Geisha-Kultur überdeutlich. 5)
4) Martin Henkel in: „Die Geisha - kunstvolle Unterhalterin oder Edelprostituierte? (www. carl-marie. de/magazin/unterhaItung/die-geisha)
5) zu sehen auf Youtube: „Benjamin Brodsky Beautiful Japan 1918 Short Film Documentary (Extracte)“, Minute 10:48 - 14:46
Ist die Öffnung der japanischen Häfen durch die US-Marine der Grund dafür, dass in vielen Erzählungen Seeleute mit Geishas in Kontakt treten? Sowohl das Buch Madame Chrysantheme von Pierre Loti 1887 als auch die gleichnamige Opern-Umsetzung von Andre Messager (1893) sowie die Kurzgeschichte Madame Butterfly von John Luther Long (1898), deren Fortschreibung als Theaterstück (David Belasco, 1900) und natürlich Puccinis Oper basieren auf dieser Konstellation. John Luther Longs Schwester SarahJane Correll, die von 1892 bis 1897 mit ihrem Ehemann, einem amerikanischen Missionar, in Nagasaki lebte, hatte ihrem Bruder zusätzlich noch vom Schicksal des Teehaus-Mädchens Cho-San erzählt und damit der Butterfly sehr wahrscheinlich ihren Namen gegeben.6)
Auch Kurt Tucholsky entdeckt das Thema: 1921 dichtet er typisch zweideutig: „Raschle, raschle, seidner Kimono/ deine kleine Geisha sehnt sich so/ und sie wäre wieder froh/ bist du bei ihr unterm Kimorio!“ Sie sehnt sich „in Nagasaki/ nach ihren Kerls in Khaki“ - das sind zwar keine Marine-, aber doch wenigstens Armeeangehörige. 7) Die christliche Seefahrt kommt 1926 ins Spiel: „Da sitzt die Geisha. Ihr Haar glänzt wie Lack./ Leise duftet die Rose. / Vor ihr steht plaudernd im strahlenden Tag/ kräftig der junge Matrose.“ 8)
6) Hanns Hohmann: „Ccnquennp Burrerfly“. in:" Kommunikationskulturen, intra- und interkulturell: Festschrift für Edith Slembek“, Hrsg. Christa M. Heilmann, Röhrig St. Ingbert 2005, S. 203
7) Kurt Tucholsky: "Raschle raschle, seidner Kimono“. in: "Gesamtausgabe Texte 1921-1922“, Rowohlt 1999, S. 129
8) Kurt Tucholsky: „In Japan ist alles so klein“, in: "Kurt Tucholsky: Kleine Geschichten“, Nexx-Verlag Villingen-Schwenningen 2015
Diesem Gedicht entstammt übrigens auch der Kapiteltitel: „Abendland- Morgenland- Mund an Mu nd“ mit der Fortsetzung „we lch ein natürlicher Völkerschaftsbund!“ Man ahnt, wohin die Begegnung führen wird. 1927 beklagt Tucholsky, dass immer etwas fehle: „Hast du Geld, dann hast du nicht Käten; / hast du die Frau, dann fehln dir Moneten - / hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer: / bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher. /Etwas ist immer. /Tröste Dich/ Jedes Glück hat einen kleinen Stich“. 9) Die Geisha ist im Sprachgebrauch angekommen. Da lässt der Film nicht lange auf sich warten.
9) Kurt Tucholsky: „Das Ideal“, in: „Tucholsky: So siehst du cus“, Rowohlt/ Bertelsmann Lesering Lizenzausgabe 1962, S. 34
1932 wird Madame Butterfly in Hollywood verfilmt. In den Hauptrollen Sylvia Sidney und Cary Grant. Auch wenn die Hauptdarstellerin schon einige Jahre länger im Geschäft ist, wird die Rolle des Marineleutnants Benjamin Franklin Pinkerton stark ausgedehnt. Cary Grant, der 1932 in sieben(!) Filmen spielt, wird von der Kritik als „Womanizer“ beschrieben, „der mit seiner naiven Art die kulturellen Eigenheiten der Japaner ignoriert und letztlich einen unsympathischen Frauenhelden abgibt“. 10)
Wie man mit dem Thema subtil umgehen kann, beweist der dänisch-stämmige US-Pianist und Musikkomödiant Victor Borge (1909-2000) bei der Kommentierung von Publikumswünschen, die er am Flügel erfüllen soll. Als Puccinis One Fine Day (Un bei di) genannt wird, fragt er vorwitzig-hintergründig: „Is it Miss or Mrs. Butterfly?“ und ergänzt: „You can't be careful enough these days ..." 11)
10) film-dienst 1932, nachzulesen aufwww.filmdienst.de/film/details/533836/ madame-butterfly-1932
11) „Heißt es Fräulein oder Frau Butterfly?“ / “Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein ..."
Matthias Gerschwitz
DAS BÜHNENBILD ALS EINSTIMMUNG
Opernregisseur Prof. Igor Folwill hat sich gemeinsam mit dem Bühnenbildner Jörg Brombacher für die Inszenierung von „Madama Butterny“ etwas ganz Besonderes ausgedacht: Die Oper eröffnet in einem japanischen Ziergarten - einem Steingarten gar!
Wie passt das zum Thema? Die Antwort lautet: Sehr gut: Denn der Steingarten entstammt der japanischen Gartenkultur - viele Jahrhunderte, bevor er in Europa heimisch wurde.
Die ersten Steingärten in unseren Gefilden finden wir zu Beginn des 20. Jahrhundert. Ist es Zufall, dass sie just zu dem Zeitpunkt modern werden, als Puccinis Oper Madama Butterfly ihre Premiere feiert? Zwar liegt der Beginn des kulturellen Austauschs zwischen Japan und der westlichen Welt da schon mehrere Jahrzehnte zurück, doch fällt der Beginn eines ausgeprägten Japonismus in Europa in das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Japan-Reisende bringen Kunde aus einem unbekannten Land - und so auch von ungewöhnlichen Gärten, die mit einer minimalistischen Gestaltung zur Meditation einladen.
In den ab dem 12. Jahrhundert entstandenen Zen-Gärten - ursprünglich Karesansui (trockene Landschaft) genannt - dominieren Felsen und Sand. Davor hatten Shinden-Gärten als Nachbildung von Orten der japanischen Mythologie mit großen Teichen, Inseln und Brücken zum ausgiebigen Lustwandeln, Boot fahren oder Angeln eingeladen. Mit Karesansui sind Gartenanlagen nun auch dort möglich, wo nur wenig Wasser zu finden ist.
Der Wechsel der Gartenphilosophie geht einher mit dem Übergang der Herrschaft vom Hofadel zum Militär. Die Samurai sind von der chinesischen Zen-Philosophie beeinflusst, die sich unter anderem auch im Bau von Tempeln am Rande der neuartigen Anlagen zeigt. Karesansui-Gärten spiegeln die Askese der Mönche wider, die sich von weltlichen Gütern und Bindungen gelöst und damit auch irdischen Ängsten und Wünschen entsagt haben. Auf der Suche nach verborgenen, inneren und übergeordneten Wahrheiten ist der größte Schatz der Zen- Philosophie die Ruhe.
Auch wenn Zen-Gärten der Meditation dienen, wäre das Betreten des Gartens abseits der vorgegebenen Wege ein Sakrileg, eine Störung der Ruhe und Ordnung, und verbietet sich daher ausdrücklich. Zudem würden so die kunstvoll stilisierten Muster zerstört, die mit einem Rechen sorgsam in den Kies gezogen werden. Sie sind mit unterschiedlicher Symbolik aufgeladen:
Oft finden wir fließende, wenn auch steinerne Wasserlinien, die die Ströme des Lebens darstellen und den Betrachter zur Ruhe kommen lassen sollen. Zur Betrachtung dienen häufig eigens errichtete Meditationsräume, die den Blick sowohl fokussieren als auch erweitern.
Eine Besonderheit dieser Gartenkultur ist die Balance zwischen Zufall und Absicht. Auch wenn die Gärten akribisch geplant werden, entbehren sie nicht einer scheinbaren Natürlichkeit. Dadurch entsteht ein breiter Interpretationsraum der einzelnen Elemente. Große Steine oder Felsstücke können Tiere darstellen, aber auch Gottheiten gewidmet sein; Kieselsteine markieren heiligen Boden. Selten wird tatsächlich Wasser als Gestaltungselement eingesetzt - wenn, dann zumeist als Illustration der asiatischen Legende, nach der sich ein Fisch, der einen Wasserfall hinaufsteigt, in einen Drachen verwandelt und durch die Erkenntnis der fundamentalen Wahrheit Erleuchtung findet - Satori nennt es der Einheimische.
Was für in Unterschied zu den mittlerweile in unseren Breitengraden zum Glück verpönten modernen Steingärten, die eher Steinwüsten ähneln. Sie sind zwar unkrautfrei und pflegeleicht, belasten aber das Ökosystem, etwa weil die Artenvielfalt von Flora und Fauna in Städten und Gemeinden darunter leidet. Mit den klassischen Steingärten nach japanischem Vorbild aber haben sie rein gar nichts zu tun.
Ein Roman über die tief verborgenen Lebensumstände Giacomo Puccinis heißt treffenderweise Die kleinen Gärten des Maestro Puccini. Zwar bezieht sich der Autor Helmut Krausser dabei auf die piccoli giardini, als die der Komponist metaphorisch seine Affären bezeichnet, doch findet sich im übertragenen Sinne ein Garten auch in Madama Butterfly: Wie in einem Zen-Garten sucht Cio-Cio-San die Ordnung ihres Lebens und glaubt, sie in der Ehe mit Pinkerton zu finden - nicht ahnend, dass er das Sakrileg begangen hat, ihren Ort der Ruhe und Meditation entweiht zu haben ....
Matthias Gerschwitz
EIN LEBEN FÜR DIE MUSIK
Schon früh war klar, dass sich Giacomo Puccini der Musik widmen wird - nur, dass es die Oper werden würde ... das ergab sich zufällig.
Geboren wird Giacomo Puccini am 22. Dezember 1858 in Lucca, etwa 20 Kilometer nordostwärts von Pisa und 80 km westlich von Florenz gelegen. Er ist das fünfte von sieben Kindern, aber erst der erste Sohn, den Albina Puccini zur Welt bringt. Sein Vater steht als Organist und Kapellmeister in der musikalischen Tradition seiner Vorfahren; schon früh entscheidet der Vater, dass auch Giacomo diesen Berufsweg gehen soll.
Michele Puccini stirbt, als der Filius gerade mal fünf Jahre alt ist. Auch wenn die musikalische Laufbahn der Wunsch des Vaters war, bleibt Giacomo Puccini auf diesem Weg, erlernt unter anderem das Klavier- und Orgelspiel und wird schon mit 14 Jahren zur musikalischen Ausgestaltung von Gottesdiensten verpflichtet. Mit 17 Jahren komponiert er sein erstes Orgelwerk ... und man könnte glauben, dass das Leben nun seinen vorgezeichneten Gang geht. Aber weit gefehlt: Nur ein Jahr später besucht Pucchini in Pisa eine Aufführung von Verdis Aida - und ist fortan beseelt, die geistliche Musik gegen die Oper einzutauschen.
Unterstützung findet er bei seiner Mutter, die ihm allerdings kein Geld dazugeben kann, denn sie muss als Witwe die große Familie alleine durchbringen. Dafür erhält er Geld von einem wohlhabenden Onkel und kann sich 1880 am Mailänder Konservatorium einschreiben. Nach dreiJahren intensivster Studien erhält er 1883 sein Diplom - und schreibt seine erste Oper: Le Villi, die er hoffnungsvoll bei einem Kompositionswettbewerb einreicht. Sie findet nicht einmal Erwähnung. Das ruft seine Freunde auf den Plan, Geld zu sammeln, um ihm 1884 eine Premiere am Mailänder Teatro al Verme zu ermöglichen. Und hier erfährt Puccini Genugtuung. Kritik und Publikum sind begeistert.
Auch Puccinis Privatleben gestaltet sich ausgesprochen lebendig. 1883 hatte er begonnen, der Gattin eines Jugendfreundes Gesangsunterricht zu erteilen, nach Ansicht des Ehemanns eher als Zeitvertreib denn aus Gründen der Begabung. Doch es bleibt nicht beim Gesang: Giacomo Puccini und Elvira Bonturi verlieben sich und beginnen eine leidenschaftliche Affäre. Als sie 1886 schwanger wird, lässt sich der Skandal kaum vermeiden. Elvira trennt sich von ihrem Mann, nimmt ihre Tochter und folgt Puccini nach Mailand, wo sie in wilder Ehe leben. Damit gehören auch die Apanagen des wohlhabenden Onkels der Geschichte an; Puccini muss Geld verdienen.
Seine zweite Oper, Edgar, die er nach dem Erfolg von Le Villi begonnen hatte, wird 1889 an der Mailänder Scala uraufgeführt, fällt aber durch. Beiden Werken wird eine Schwäche des Librettos nachgesagt, das Puccini bislang nie wirklich interessiert hatte. Das ändert sich bei seinem dritten Werk: Der Roman Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut von Abbé Prevos war zwar schon 1884 in Frankreich vertont worden, aber die Oper von Jules Massenet ist in Italien unbekannt. Gemeinsam mit sieben Librettisten macht er sich ans Werk und kann am 1. Februar 1893 im Turiner Teatro Regio mit Manon Lescaut einen überwältigenden Erfolg feiern.
Bereits jetzt zeigt sich, dass Puccini ein großes Interesse an den Frauenfiguren seiner Werke hat. Die weibliche Hauptfigur in Le Vi!li, Anna, wird verlassen und stirbt aus Gram, ihre Seele aber lebt weiter und sinnt auf Rache. Steckt darin etwas von seiner Mutter, die vom frühen Tode ihres Mannes getroffen wurde, sich aber zu einer starken Frau wandelte? In Edgar gibt es gleich zwei konkurrierende Frauenfiguren:
Fidelia - im Wortsinn „die Treue“ - und Tigrana, die unheilvolle, schlechte Verliererin. Sind das die Facetten, die er in seiner Lebensgefährtin Elvira sieht? Und schließlich Manon Lescaut, die aus Liebe vor ihrer Zukunft als Nonne flieht.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Puccini seiner nächsten tragischen Heldin: Mimi, die tuberkulöse, zarte Gestalt aus La Boheme hat es ihm besonders angetan. Aber als die Oper am 1. Februar 1893 im Turiner Teatro Regio uraufgeführt wird, reagiert das Publikum zurückhaltend. Auch Aufführungen in Rom und Neapel werden kühl aufgenommen. Erst die Inszenierung in Palermo am 14. April 1896 bringt den Durchbruch.
Auch die nächste Figur ist eine Frau: Tosca, eine gefeierte Sängerin, ist bereit, sich für ihren politisch verfolgten Geliebten zu opfern. Die Premiere am 14. Januar 1900 im Teatro Constanzi in Rom wird zu einem gesellschaftlichen Großereignis - und mit leichter Verzögerung zu einem ebenso großen Erfolg. Doch die wenigsten Besucher der Premiere können ahnen, dass das Privatleben des Komponisten gerade aus den Fugen gerät. Wieder ist eine Frau der Auslöser, diesmal aber eine aus Fleisch und Blut: Auf einer Zugfahrt hatte Puccini eine junge Frau kennengelernt, die ihm völlig den Kopf verdreht, die er besitzen will. Sie aber lässt ihn zappeln und heizt ihn damit noch mehr an. Als sie endlich zusammenkommen, ist es um ihn geschehen.
Er beginnt eine Affäre, die drei Jahre dauern wird und die Beziehung zu Elvira auf die Probe stellt. Erst nach der Intervention seines Verlegers siegt die Vernunft. Die Geliebte wird großzügig abgefunden - und als Elviras Ehemann stirbt, kann endlich geheiratet werden.
In der Zwischenzeit hatte sich Puccini einem neuen Werk zugewendet. Im Februar 1904 feiert Madama Butterfly Premiere, aber die Reaktion des Publikums ist verstörend ... die Oper fällt mit Pauken und Trompeten durch. Puccini aber trotzt dem Misserfolg, nimmt etliche Überarbeitungen vor und kann schließlich am 28. Mai 1904 im Teatro Grande zu Brescia triumphieren.
Der nächste Skandal lässt nicht lange auf sich warten. Auch die Eheschließung hält Elvira Puccini nicht von ihrer grenzenlosen Eifersucht ab. 1908 beschuldigt sie grundlos und in aller Öffentlichkeit ein Dienstmädchen des Ehebruchs mit ihrem Mann, woraufhin diese Selbstmord begeht. Für Puccini ist damit eine Grenze überschritten, er trennt sich von seiner Frau. Aber als sie ein Jahr später vor Gericht gestellt und verurteilt wird, kann er ihr durch Zahlung einer großen Summe an die Hinterbliebenen des Opfers das Zuchthaus ersparen. Und - er kehrt zu ihr zurück.
Auch für seine nächste Oper wählt Puccini einen besonderen Schauplatz: Nach dem Montmartre in La Boheme und Nagasaki in Madama Butterfly siedelt er La fanciulla del West in Kalifornien zur Zeit des Goldrauschs an. Wo sonst als an der Metropolitan Opera in New York kann ein solches Werk seine Uraufführung erleben?
Sein nächstes Werk steht unter keinem guten Stern: In Europa herrscht Krieg. Aus Wien hatte Puccini 1913 das Angebot bekommen, die deutschsprachige Oper Die Schwalbe zu schreiben, aber nun scheint die Arbeit für einen Kriegsgegner nicht mehr opportun. Erst als der Ruf nach einer italienischen Version erfolgt, setzt er seine Arbeit an der Oper, die nun La rondine heißen wird, fort. Noch während des Krieges erlebt sie 1917 ihre Uraufführung im Opernhaus des Kasinos von Monte Carlo.
Nur ein Jahr später, am 14. Dezember 1918, feiert II trittico (Das Tryptichon) an der New Yorker Metropolitan Opera Premiere, aber Puccini ist es so kurz nach dem Kriege nicht möglich, zu reisen. 1920 befasst er sich mit Turandot, einer chinesischen Fabel aus der Feder des italienischen Theaterdichters Carlo Gozzi. Doch erst, als ihm die italienische Übersetzung einer freien Nacherzählung des Stoffs durch Friedrich Schiller in die Hände fällt, erhält die Oper ihre Konturen. Im März 1924 ist Turandot bis auf den Schluss fertig, doch einen zufriedenstellenden Text zum Finale erhält er erst sechs Monate später. Da weiß Puccini aber schon, dass sein immenser Zigarettenkonsum zu Kehlkopfkrebs geführt hat. Im November 1924 reist er nach Brüssel, um den Tumor mit Radium behandeln zu lassen; kurz darauf erleidet er einen Herzanfall und verstirbt am Morgen des 29. November 1924. Turandot wird als Fragment am 25. April 1926 in der Mailänder Scala uraufgeführt und noch im selben Jahr von Franco Alfano vollendet.
Mit zwölf Opern ist Giacomo Puccini unsterblich geworden - und seine Figuren sind Heldinnen und Opfer zugleich: die tuberkulöse Mimi, die fehlgetretene Nonne Manon, die gefeierte Sängerin Tosca, die männermordende Prinzessin Turandot oder Cio-Cio-San, die japanische Kindgeisha. Frauen bestimmen sein Leben und seine Musik. Giacomo Puccini - Viva la musica!
Matthias Gerschwitz
Besetzung
Cio-Cio-San: Tetiana Miyus, Yitian Luan
Suzuki: Viola Zimmermann, Wioletta Hebrowska
Pinkerton: Timothy Richards
Kate Pinkerton: Juliana Curcio, Ana Vidmar
Sharpless: Gerard Quinn
Goro: Tae Hwan Yun
Fürst Yamadori: John Heuzenroeder
Onkel Bonze: Valentin Anikin
Kaiserlicher Kommissar: Max van Wyck, Lovro Kotnik
Standesbeamter: Thomas Bernardy
Cio-Cio-Sans Mutter: Annika Egert
Ein Kind: Piet Schuppe
Statisterie: Kian Jali / Malcolm Lourenco
Informationen
Inszenierung: Prof. Igor Folwill
Musikalische Leitung: Hilary Griffiths
Kostümbild: Martina Feldmann
Bühnenbild: Jörg Brombacher
Licht: Rolf Essers
Produktionsleitung: Anna-Luise Hoffmann
Regieassistenz/Inspizienz: Susanne Niebling
Chorleitung: Sebastian Borleis
Korrepetitor: Francesco de Santis
Ton: Christian Klingenberg
Maske: Marlene Girolla-Krause
Requisite: Hans W. Schmidt
Orchester: Kammerphilharmonie Lübeck (KaPhiL!)
Chor: Chor der Eutiner Festspiele
Aufführung in italienischer Sprache.
Dauer: 1. Akt: 60 Min, 2.+3. Akt: 90 Minuten
Pause nach dem 1. Akt: 30 Minuten
Besetzung
Künstlerisches Team
Hinweis: Die historischen Texte und Abbildungen dieser Rückschau (bis in die 1950er Jahre) stammen aus den jeweiligen Programmheften und Fotosammlungen und spiegeln ihre Zeit. Sie könnten Begriffe und Darstellungen enthalten, die heute als diskriminierend oder unangemessen gelten. Die Eutiner Festspiele distanzieren sich daher ausdrücklich von solchen Inhalten. Auch die Erwähnung teils umstrittener Persönlichkeiten erfolgt ausschließlich im historischen Zusammenhang. Der digitale Rückblick soll Geschichte transparent machen und zur kritischen Auseinandersetzung mit Sprache, Haltung und Zeitgeschehen anregen. Wo erforderlich, ergänzen wir erläuternde Hinweise. Hinweise auf sachliche Fehler oder notwendige Kontexte nehmen wir gerne unter info@eutiner-festspiele.de entgegen.