
„Ein Käfig voller Narren“ ist alles zugleich: überdreht, urkomisch und aberwitzig und dennoch voller berührender Nachdenklichkeit. Und eben dadurch alles andere als „nur“ eine Musikkomödie.
Worum geht es in diesem Bühnenstück?
Der Transvestiten-Nachtclub-Besitzer Georges und sein Lebensgefährte Albin sind völlig aus dem Häuschen: Aus seiner einzigen, lang zurückliegenden Beziehung mit einer Frau hat Georges einen Sohn, der bei ihm und Albin behütet aufgewachsen ist. Und dieser Sohn will ausgerechnet die Tochter eines erzkonservativen und homophoben Politikers heiraten. Auf diese Ankündigung hin fragt Albin: "Ein Mädchen? Wie grauenvoll!" Kurz entschlossen inszeniert Renato für den Besuch der Schwiegereltern in spe eine heile Hetero-Welt, indem er Albin hinter die Kulissen schieben und die Mutter seines Sohnes als Ehefrau präsentieren will. Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf…
"La cage aux folles" – komponiert von Erfolgskomponist Jerry Herman – ist und bleibt ein musikalisches Ereignis! Der Schöpfer von „Hello Dolly!“, der auch die Songtexte verfasste, war damit feder(boa)führend für das erste Broadway-Musical, das queere Themen auf die Bühne brachte. Das Stück gewann sechs Tony Awards und wurde allein am Broadway über 1700 Mal gespielt. Eine Legende voller Leicht- und Tiefgang, deren stolzer Selbstermächtigungs-Song „I am what I am“ u.a. von Shirley Bassey und Gloria Gaynor interpretiert wurde und bis heute eine der prominenstesten Coming-out and Going-public-Hymnen weltweit ist. Reine Spielfreude, von der ersten bis zur letzten Note. Und bis hin zum abgespreizten kleinen Finger…
Handlung
IST DIE DAME EINE DAME?
Im Nachtclub La Cage aux Falles spielen die Künstler einer glitzernden Travestie-Show zum Vergnügen des Publikums frivol mit den Geschlechterrollen. Der Clubbesitzer Georges lebt seit mehr als zwanzig Jahren mit Al bin zusammen, der als mittlerweile etwas angestaubte Diva Zaza unbestrittener Star der Revue ist.
Nicht alles, was glänzt, sind Pailletten!
Hinter der Bühne geht es nicht halb so schillernd zu. Albin steckt in einer Lebenskrise. Er vermutet, dass Georges sich einem Jüngeren zugewandt hat. Doch der hat ganz andere Sorgen: Sein Sohn aus einer frühen heterosexuellen Verbindung steht mit einer Überraschung vor der Tür. Jean-Michel will heiraten' Ein Mädchen aus gutem Hause soll es sein, was ja grundsätzlich nicht schlecht ist. Aber leider wurde Anne Dindon auch sehr konservativ erzogen. Ihr Vater Edouard ist nämlich ein konservativer Populist und Moralapostel; liebend gern würde er so verruchte Läden wie das La Cage aux Falles von heute auf morgen schließen lassen. Und niemals würde er der Hochzeit zustimmen, wenn er wüsste, wer der Vater seines Schwiegersohnes in spe ist ...
Eine Lösung muss her!
Wen verwundert es, dass die Eltern der Braut die Eltern des Bräutigams kennenlernen wollen? Georges ist perplex - sein Sohn will das Elternhaus in eine heterosexuell-bürgerliche Umgebung umgestalten. Nur - was passiert mit Albin? Georges' tuntiger Lebensgefährte lässt sich nicht so einfach umgestalten ... so weit reicht die Travestiekunst nun auch wieder nicht. Er soll vorübergehend verschwinden, was ihn tief verletzt. Aber wo ist eigentlich Jean-Michels leibliche Mutter?
Bloß keine Öffentlichkeit!
Wenn man's am wenigsten brauchen kann, stehen Reporter vor der Tür. Edouard Dindon in einem Travestie-Club? Sensation! Skandal! Wie kommen die Beteiligten aus dieser Zwickmühle wieder heraus? Zum Glück ist da ja noch Albin ...
NENNT MICH NICHT NARR ...
... bis mich das Glück gesegnet, heißt es bei Shakespeare1. Ist auch Jean Poiret vom Glück gesegnet? Am 1. Februar 1973 feiert sein Theaterstück „Ein Käfig voller Narren“ in Paris Premiere. Wie wird das Publikum auf eine Farce reagieren, in der es um Travestie und Homosexualität geht?
Es reagiert mit stürmischem Beifall. Die Uraufführung von La Cage aux Falles am Theatre du Palais Royal ist ein voller Erfolg, Michel Serrault brilliert in der Rolle des tuntigen Albin, der auf der Nachtclub-Bühne als Zaza frivolisiert. In fast 1.800 Vorstellungen wird eine Lebenswelt präsentiert, die den meisten Besuchern fremd, aber - einzigartig in Europa - in Frankreich bereits seit 1791 1) legalisiert ist.
Die Idee zum Stoff kommt Jean Poiret und Michel Serrault bereits 1958. 2) In der Skizze Les Antiquaires 3) oder Les deux Hortenses 4) nehmen sie homosexuelle Geschäftsleute aus der Nachbarschaft mit augenzwinkerndem Humor auf die Schippe: Zwei elegante Antiquitätenhändler werden mit den Wünschen eines schwierigen Kunden konfrontiert, bis am Ende einer der beiden versucht, statt eines Möbelstücks seinen Partner zu verkaufen.
1) „Wie es Euch gefällt“, 2. Aufzug, 7. Szene, Jacques
2) https://www.2mecs.de/wp /2014/ 03/ein-kaefig-voller-narren-1978/
3) https://www. lebIogantiquites.com/zoIo/06/1es-antiquaires-un-sketchde-jean-poiret-et-michel-serrauIr.html
4) Weiblicher Vorname; spielt darauf an, dass sich manche homosexuelle Männer mit Frauennamen anreden.
Es wird aber noch viele Jahre dauern, bis aus Les Antiquaires das Meisterwerk La Cage aux Falles wird. In einer fragilen Balance zwischen urkomischen Momenten und tragischen Augenblicken erzählt Jean Poiret neben der Geschichte einer großen Liebe auch die des gemeinsamen Alterns. Was oberflächlich mit Glitzer, Glamour und Fummel prunkt, ist tatsächlich ein tief empfundenes Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit. Hier wird eine fremde Lebenswelt auf-, aber nicht vorgeführt. Die Franzosen wissen das zu schätzen.
Der Bühnenerfolg ruft den Film auf den Plan. 1978 erscheint La Cage aux Falles auf der Leinwand. Auch hier übernimmt Michel Serrault die Rolle des Albin; allerdings fallen die subtilen Zwischentöne platten Schenkelklopfern zum Opfer - was auch das Lexikon des internationalen Films kritisiert 5). Trotzdem wird Ein Käfig voller Narren ein Erfolg. Alleine in den USA spielt er über 20 Millionen Dollar ein und gehört damit auch heute noch zu den erfolgreichsten ausländischen Filmen 6). Die Fortsetzungen können in den USA das Ergebnis nicht wiederholen. Noch ein Käfig voller Narren (1980) spielt knapp 7 Millionen Dollar ein; der dritte Teil, Ein Käfig voller Narren - Jetzt wird geheiratet (1985), kommt in den USA nicht einmal auf 350.000 Dollar, in Deutschland immerhin auf das Doppelte. Das an die prüden Moralvorstellungen der amerikanischen Gesellschaft angepasste Hollywood-Remake Birdcage - Ein Paradies für schräge Vögel hingegen erzielt 1996 alleine an den US-Kinokassen knapp 125 Millionen Dollar, weltweit sind es sogar 185 Millionen. 7)
5) „Platte Trivialkomödie, deren Lacher fast ausschließlich auf Kosten der vorgeführten Klischee-Außenseiter gehen.“
6) https://www.moviepilot.de/news/die-10-erfolgreichsten-ausland ischenfi l me-i n-den-usa--2-11 o 5456
7) Quelle der Einspielergebnisse: www.imdb.com, Box Office (Angaben zu Teil 3 in Deutschland: wikipedia.de)
Als sich Jerry Herman (Text und Musik) und Harvey Fierstein (Buch) an die Umsetzung des Stoffes für die Musicalbühne wagen, halten sie sich lieber an das Theaterstück. Trotz allen Witzes und aller Komik sollen wieder die leisen, subtilen Zwischentöne ihren gebührenden Platz finden. Beide, selbst homosexuell, brennen für die Idee, das erste Musical mit schwulen Themen auf die Bühne zu bringen. Natürlich dürfen sie nicht allzu explizit werden, aber sie reizen die Möglichkeiten der mehr oder weniger zarten Andeutung genüsslich aus. Daher ist auch das Musical keine peinliche Vorführung schräger Vögel.
Die nächste Hürde lässt nicht lange auf sich warten: Für die Probeaufführungen ist das eher konservative Bostoner Publikum vorgesehen - doch Herman und Fierstein haben offensichtlich alles richtig gemacht. Der Run auf die Ein-trittskarten ist so groß, dass die Abendkasse durchgehend für 36 Stunden geöffnet bleiben muss, um alle Wünsche zu erfüllen. Ungeplant werden zusätzliche Voraufführungen notwendig. Damit ist allen Beteiligten klar: La Cage aux Falles wird ein Hit! Der Erfolg setzt sich bei der Broadway-Premiere am 21. August 1983 fort und hält mehr als 1.750 weitere Aufführungen an. Doch damit nicht genug: Die internationalen Bühnen werden im Sturm erobert, wenn auch nicht alle. Der Londoner Premiere 1986 folgen im homophoben Klima der Thatcher-Regierung gerade mal 300 Aufführungen. Ein Jahr zuvor hatte sich schon das Berliner Theater des Westens die Rechte für die deutsche Uraufführung (23. Oktober 1985) gesichert. Übersetzt von Erika Gesell und Christian Severin, wird Ein Käfig voller Narren der größte persönliche Erfolg des Regisseurs und späteren Intendanten Helmut Baumann, der kurzfristig für den erkrankten Hauptdarsteller einspringt.
Seitdem ist das Musical von deutschen Bühnen kaum mehr wegzudenken; es gibt neben einer hessischen Mundartversion, die 2012 im Volkstheater Frankfurt inszeniert wurde, auch ein plattdeutsches Pendant (Ohnsorg-Theater Hamburg, 2015). In Eutin feiert Ein Käfig voller Narren erneut eine Premiere: Zum ersten Mal wird das Musical auf einer Seebühne präsentiert.
Die Eutiner Festspiele sind 2022 mit Fremde Lebenswelten überschrieben. Für viele Besucher des Theaterstücks, der Filme oder des Musicals Ein Käfig voller Narren ist die Begegnung mit Homosexualität und Travestie tatsächlich wie das Eintauchen in eine fremde Lebenswelt - eine Welt, in der (angeblich) außerhalb einer Norm stehende Menschen aber letztlich dieselben Träume, Wünsche, Hoffnungen, aber auch Probleme haben wie jeder andere auch. Es gibt also keinen Grund, sie nicht zu akzeptieren, wie sie sind. Man akzeptiert sich ja selbst auch. Nicht umsonst heißt es: „I Am What I Am“.
Umwandlung, Anpassung oder Rollentausch sind seit jeher Thema vieler Bühnen-, Film- und Musicalstoffe: Leonore verkleidet sich in Beethovens Fidelio als Bursche, um ihren Ehemann aus der Kerkerhaft zu retten, in Eins Zwei Drei von Billy Wilder (1961) wird aus einem Ostberliner Kommunisten der standesgemäße Schwiegersohn des Coca Cola-Vorstandsvorsitzenden, in Victor/Victoria spieltJulie Andrews 1982 eine Frau, die einen Mann spielt, der als Frau auftritt.
„Ist die Dame eine Dame? Oder ist sie keine Dame? Oder ist die Dame nicht mal eine Frau?“. heißt es kokett in der Eröffnungsnummer des Berliner Travestie-Cabarets Chez Nous (1958- 2008).
Das frivole Spiel mit Klischees und dem eigenen Selbstverständnis gilt lange Zeit als halbseiden und verrufen, wenn nicht sogar als degoutant; aber viele von jenen, die offiziell die Nase rümpfen, amüsieren sich schenkelklopfend in den abendlichen und nächtlichen Shows.
Was auf Bühne oder Leinwand akzeptiert wird - Kostüme kann man ausziehen, Berufe kann man wechseln, Aussehen kann man verändern -, wird in der Realität nach wie vor viel zu oft abgelehnt. Immer noch gehört Homosexualität zu den No-Gos, zu den Tabus großer Teile unserer Gesellschaft. Immer noch wird sie als Krankheit angesehen (was sie erst seit 1990 nicht mehr ist), die man heilen könne. „Konversionstherapie“ heißt die obskure Methode, mit der (angeblich) fehlgeleitete Schäfchen wieder auf den Weg der (angeblichen) Tugend zurückführen wollen - ohne Rücksicht auf die Persönlichkeit, das Selbstbestimmungsrecht und die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen. Aber Homosexualität, wie auch jede andere Form der Nicht-Heterosexualität, lässt sich weder auf Befehl noch mit guten Wünschen und erst recht nicht mit Zuckerbrot und Peitsche verändern umwandeln oder gar abstellen. Man kann einen Menschen nicht „umpolen“, weil jeder Mensch seine eigenen Pole - und das Recht auf seine eigenen Pole hat. Die sexuelle Disposition des Menschen ist unveränderlich. Das gilt übrigens auch für Heterosexualität ...
Ein Käfig voller Narren hat als Theaterstück, als Film und als Musical versucht, vielen Menschen fremde Lebenswelten und die unveränderliche Disposition des Menschen näherzubringen. Daher wird die Umwandlung des tuntigen Al bin in einen heterosexuellen - ja, was denn eigentlich? - gar nicht erst in Betracht gezogen, auch wenn sie das zusammentreffen mit dem konservativen Politiker vereinfachen würde. Aber die Anpassung wird thematisiert ... und doch steckt z. B. hinter der Komik, Albin einen männlichen Gang à la James Bond beizubringen, eine große Tragik: die Absicht. Man will anderen gefallen, man versucht, einem Fremdbild zu entsprechen - und gibt sich dabei selbst preis. Albin aber weigert sich, das zu tun. Die Tunte wird zum Helden.
Wenn es normal wird, dass jeder Mensch dasselbe Recht auf Glück hat - nach seiner Facon selig werden, nannte es einst Friedrich der Große -, dann hat Ein Käfig voller Narren nicht nur für einen wunderbar unterhaltsamen Abend gesorgt, sondern auch viel für Toleranz und Akzeptanz, für Verständnis und Wertschätzung, für das Zusammenleben der Menschen und den Zusammenhalt der Gesellschaft getan. Und Sie, verehrte Besucherin, geehrter Besucher der Eutiner Festspiele, dürfen sich in bester Shakespeare-Tradition getrost einen Narren nennen - denn dann sind Sie vom Glück gesegnet. Und das ist auch gut so.
Matthias Gerschwitz
WAS ICH BIN, IST UNGEWÖHNLICH!
„Unsere schönsten Lieder erzählen die traurigsten Geschichten.“ Das mehr als 200 Jahre alte Zitat des englischen Schriftsteller Percy Bysshe Shelley gilt auch heute noch insbesondere für Lieder über den Traum von Anerkennung - Anerkennung als der Mensch, der man ist - und nicht als jener, den die Gesellschaft erwartet. Erst die Befreiung von einer einengenden Norm öffnet dem Fortschritt die Tür. Kann Musik das leisten?
1975 singt Joy Fleming beim Grand Prix d'Eurovision für Deutschland Ein Lied kann eine Brücke sein - und betont damit:
Es kann ... aber es muss nicht. Und doch ist es den Versuch wert. Schon zu Zeiten des Brettls, des literarischen und politischen Kabaretts der Boheme der vorletzten Jahrhundertwende, wurde Gesellschaftskritik in Chansons und Couplets, seit den issoer Jahren sogar in Schlager verpackt: Raus mit den Männern aus dem Reichstag (Claire Waldoff, 1926), These Boots Are Made For Walking (Nancy Sinatra, 1966), Lieb Vaterland oder Ein ehrenwertes Haus (Udo Jürgens 1971 bzw. 1975) sind nur einige Beispiele. Doch es gibt auch Gegenstimmen. Thomas Fritsch singt 1967 1):
Protest im warmen Nest, das ist ein Sport, den jeder liebt,
zumal der Vater Dir sogar das Geld noch dazu gibt.
1) Single-Schallplatte: „Es ist gar nicht so leicht, erwachsen zu sein“, Text & Musik: Charly Niessen, Polydor 52857 (B-Seite), 1967
Noch wird Protest als Sozialromantik verspottet, aber er ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Es mehren sich die Stimmen, die auf Emanzipation und Anerkennung pochen. Ende der 196oer Jahre beginnen die Umbrüche. Auch Homosexuelle wollen sich endgültig von den gesellschaftlich aufgezwungenen Fesseln befreien, die von Missachtung und Diskriminierung über Ausgrenzung bis zur Strafbarkeit einvernehmlicher sexueller Handlungen gehen. Eine der Folgen: In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 entlädt sich in bzw. vor der Schwulen- und Transsexuellen-Bar Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street die Wut über ständige Razzien und Gewalt in einem Aufstand. In Erinnerung daran entsteht 1970 der CSD, der Christopher Street Day, der in Deutschland seit 1979 begangen wird.
I Am What I Am.
Drei Jahre später dreht Rosa von Praunheim in Deutschland den Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Er fordert die Homosexuellen darin auf, endlich ihre Angst, zu überwinden und aus ihren Verstecken zu kommen, um miteinander für eine bessere, gleichberechtigte Zukunft anzutreten.
I Am What I Am.
1975 singt Marianne Rosenberg Ich bin wie Du. Homosexuelle, eine lange unterdrückte Minderheit, fühlen sich angesprochen. Noch im selben Jahr folgt Er gehört zu mir. Auch das schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, mit dem Marianne Rosenberg endgültig zur deutschen Schwulen-Ikone avanciert. Ein Lied kann also tatsächlich eine Brücke sein - und kann genau wie ein Aufstand oder ein Film ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen, das stark macht. Trotzdem müssen sich auch im 21. Jahrhundert nicht-heterosexuelle Menschen immer noch vorwerfen lassen, sie beanspruchten besondere Rechte. Nein - das tun sie eben nicht, und das taten sie noch nie. Sie beanspruchen nur gleiche Rechte. Und vor allem ein Recht: Das zu sein, was sie sind. Und genau so auch akzeptiert zu werden.
1983 schreibtJerry Herman den Song I Am What I Am für sein Musical La Cage aux Falles. Die Formulierung ist nicht neu, aber nie zuvor wurde sie mit dem Anspruch auf Menschenwürde in einen solch emotionalen Kontext gestellt. Als Gloria Gaynor kurz darauf mit einer Discoversion die Charts stürmt, wird das Streben nach Anerkennung zur ultimativen Hymne.
I Am What I Am.
Es ist die Hymne für alle, die nicht zur jeweiligen Mehrheit gehören. Jerry Herman kann davon ein Lied singen. 1942, mit elf Jahren, macht er seine ersten Erfahrungen mit dem Antisemitismus. Zur Vorbereitung auf Bar Mitzwa, die Feier seiner Religionsmündigkeit, besucht er die hebräische Schule in einem weniger gut beleumundeten Viertel von Jersey City. Nachdem ihn einige Rüpel mit Schmähworten bedacht und mit Steinen beworfen haben, flüchtet er ängstlich in den Schoß der Mutter. Die gibt ihm einen wichtigen Satz mit auf den Weg: Du bist gut so, wie Du bist. Du bist genau wie jeder andere etwas Besonderes - als Jude, als Mensch. Später wird er feststellen: auch als Schwuler. Es ist gut, weil alles das zu ihm, zu seiner Persönlichkeit, zu seinem Mensch-Sein gehört.
I am what I am
I am my own special creation.
oder in der deutschen Version:
Ich bin, was ich bin
Und was ich bin, ist ungewöhnlich.
Mit diesem Lied gibt Jerry Herman all jenen, die missachtet, belächelt, gemieden oder verfolgt werden, eine Stimme - und damit Wertschätzung, Würde und Selbstachtung. Du bist gut so, wie Du bist. Ob weiß oder nicht. Ob heterosexuell oder nicht. Ob behindert oder nicht. Ob einheimisch oder nicht. Ob reich oder nicht. Ob religiös oder nicht. So, wie Du bist, bist Du ein Teil der Vielfalt. Ein Teil der Gesellschaft.
Die Gesellschaft ist ja keine graue, amorphe Masse, sondern ein Puzzlespiel mit vielen bunten Teilen, in denen sich jeder wiederfinden kann - und die zusammen ein wunderbares Bild ergeben. Aber das wird leider (zu) selten erkannt. Im Zweifelsfall beruft man sich gerne auf die Bibel - bei dem Thema „Homosexual ität“ genügt oft schon ein einziger Vers:
Du sollst nicht beim Manne liegen wie bei einer Frau, denn das ist ein Gräuel (2. Mose, 18,22) Leider wird gerne vergessen, dass hier ein Übersetzungsfehler vorliegt: Es geht um bezahlte Lustknaben und nicht um die Ausübung gleichgeschlechtlicher Sexualität. Übrigens stehen in den Büchern Mose noch viel mehr allgemeine Verhaltensregeln, an die sich aber niemand hält. 2.
2) Beispiele: Verkauf der Töchter in die Sklaverei (2. Mose 21,7); Wer samstags arbeitet, soll getötet werden (2. Mose 35,2); Verbot des Essens von Schalentieren wie Muscheln oder Hummer (3. Mose 11,10). Verbot des Haareschneidens oder der Rasur (3. Mose 19,27).
Nach wie vor werden auch im westlichen Kulturkreis nichtheterosexuelle Menschen aus den absonderlichsten Gründen Opfer von Diskriminierung: Wurden (auch in der jüngeren) Vergangenheit Homosexuelle zum Beispiel für sinkende Geburtenzahlen 3), für Naturkatastrophen 4) oder für das Corona-Virus 5) verantwortlich gemacht, lässt sich die Liste 2022 nahtlos fortführen: So bezeichnet das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche Gay Pride-Veranstaltungen als ideellen Auslöser für den militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine 6), verbannen einzelne US-Bundesstaaten wie Texas oder Florida Diskussionen über sexuelle Orientierung bzw. Identität aus Bildungs- und Jugendeinrichtungen. 7). Im März 2022 schiebt eine Familie aus dem US-Bundesstaat North Carolina ihren Hund ins Tierheim ab, weil sie ihn für schwul hält8. Ende März 2022 wird zufällig bekannt, dass die Social Media-Plattform TikTok Begriffe wie homosexuell, queer oder schwul in Deutschland heimlich zensiert. 9) Dass Schwule über einen langen Zeitraum grundsätzlich von der Blutspende ausgeschlossen waren, gerät dabei fast in Vergessenheit. Erst seit September 2021 sind auch sie zugelassen - vorausgesetzt, sie haben mindestens vier Monate der Ausübung von Sexualität entsagt. Heterosexuellen wird diese Frage nicht gestellt.
3) Erika Steinbach (ehern. CDU, jetzt AfD) am 19. Juni 2016 aufTwitter und „Chez Krämer“, rbb, 9. März 2020
4) „Wer war schuld am Hurrikan Karina“, in: „Die Welt“, 22. September 2005
5) „Rabbi und Pastor geben LGBTI die Schuld am Coronavirus“, auf: queer.de, 9. März 2020
6) „Moskaus Patriarch:,Krieg soll Gläubige vor,Gay-Paraden, schützen“, auf katholisch.de, 07. März 2022
7) Martin Zeyn: „In Florida gilt Schwulsein wieder als abnormal“, in „BR Kulturbühne“, 30 März 2022
8) „Homophober Besitzer schiebt,schwulen, Hund ins Tierheim cb“, queer.de, 21. März 2022
9) Simon Hurtz: „Tiktok hat jegliches Vertrauen verspielt“, insueddeutsche.de, 28. März 2022
Die heteronormative Mehrheit sollte sich entscheiden, wie sie mit der queeren Minderheit umgeht. Hat sie Angst vor einer angeblichen Homo-Lobby) 10) oder LGBTI-Agenda, ist sie Anlass für Witzchen - siehe Annegret Kramp-Karrenbauer als Putzfrau Gret! 2019 im saarländischen Fasching - oder doch eine Gefahr für Leib und Leben der Kinder, wie die extrem rechtskonservative Demo für Alle 11) seit Jahren nicht müde wird zu propagieren. Dabei haben die Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat bereits 2014 darauf hingewiesen, dass ein großer Teil von Kindesmisshandlungen in der klassischen Familie bzw. ihrem Umfeld stattfindett 12) - von den Missbrauchsskandalen in kirchlichen Umfeld ganz zu schweigen.
10) vgl. „Homolobby“ auf http://www.diskursatlas.de
11) „Moral-Panik gegen Sexualkunde“ in: „Der Tagesspiegel“, 14.Nov.2016
12) Armin Lehmann: „Deutschland verleugnet im Kollektiv“ über das Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ (ISBN: 9783426276167), in: „Der Tagesspiegel“, 30. Januar 2014
Das Grundgesetz schützt die Würde des Menschen ohne Ansehen von Alter, Geschlecht, Nationalität oder sexueller Orientierung. Zur Würde des Menschen gehört, ihn sein zu lassen, was er oder sie ist. Auch in Bezug auf die sexuelle Disposition. Sie ist nicht veränderbar, sie ist keine Krankheit und damit auch nicht heilbar. Sie ist nicht beliebig ein- und ausschaltbar, und auch ein Verbot nutzt nichts, denn sie unterliegt nicht der freien Entscheidung.
I Am What I Am.
Die Idee hinter dieser Hymne gilt universell für alle Menschen. Und auch all jene, die sich gerne als „normal“ bezeichnen, wären gut beraten, wenn sie diese Idee nicht nur für sich in Anspruch nähmen, sondern auch anderen zubilligten. Denn: Alle Menschen sind gut so, wie sie sind - solange die Grundregeln des friedlichen Zusammenlebens der Maßstab sind. Und das ist nun mal nicht von der sexuellen Orientierung abhängig ...
Matthias Gerschwitz
„FÜR EIN LÄCHELNDES PUBLIKUM“
Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein: Songs & Interpreten sind dem Publikum weitaus mehr geläufig als Komponisten oder Textdichter. Dabei sind es gerade die letztgenannten Professionen, die den Stoff für die Ewigkeit liefern.
Eine unbestrittene Größe des Broadway, der Text- und Musik können in einer Person vereinte, ist Gerald „Jerry“ Herman, der am 26. Dezember 2019 im Alter von 88 Jahren unwiderruflich die Bühne des Lebens verlassen hat. Die Eutiner Festspiele hatten da aber schon lange beschlossen, eines seiner Erfolgsmusicals auf die Seebühne zu bringen. Die diesjährige Aufführung von Ein Käfig voller Narren wird also zur postumen Verneigung vor einem der Meister des Musicals.
Herman wurde von seinen Kritikern oft vorgeworfen, er sei altmodisch - aber genau das will er sein. Er komponiert und textet lieber in der Tradition von Irving Berlin, Richard Rogers oder Oscar Hammerstein, statt sich in der intellektuellen Tiefe und musikalischen Komplexität eines Stephen Sondheim ' zu verlieren. Herman - der immer behauptete, im Geiste nur für seine Mutter zu komponieren - schätzt die eingängige Showmelodie mit dem Zeug zum Gassenhauer. „Ich schreibe für ein lächelndes Publikum“, erzählt er 2010 der Washington Post. Im selben Jahr zitiert die Zeitung den Theaterregisseur Eric Schaeffer: „Wenn die Leute an Jerry Herman denken, denken sie an große Kostüme, Glamour und Glitter ... 1) aber wenn man das weglasse, stoße man auf große Emotionen -woraufhin Schaeffer schlussfolgert: „Jerry wurde unterschätzt.“ Ist es wirklich möglich, den Schöpfer von zehn Broadway-Shows, den Gewinner dreier Tony Awards, darunter einem für sein Lebenswerk, sowie der Kennedy Center Honors zu unterschätzen?
1) Stephen Sondheim war an etwa 20 Musicals und 10 Filmen bzw. TV-Produktionen mit Text und/oder Musik beteiligt (u.a. „West Side Story“ und „Dick Tracy“). Er verstarb am 26. November 2021.
Musik wird Jerry Herman, der am 10. Juli 1931 in New York als einziges Kind eines Lehrer-Ehepaars zur Welt kommt, bereits in die Wiege gelegt. Seine Eltern Harry, der auch ein Sommercamp für Kinder leitet, und Ruth, die gelegentlich in Hotels als Sängerin auftritt, ermutigen ihn bereits mit sechs Jahren, Klavier zu spielen. Mit fünfzehn darf er sie zu einer Broadway-Aufführung begleiten. Annie Get Your Gun mit Ethel Merman wird zur Initialzündung, die Musik Irving Berlins wird sein späteres Schaffen stark beeinflussen.
Trotz seiner Begeisterung für Musik und Bühne schreibt sich der Sechzehnjährige nach dem Schulabschluss an der New Yorker Parsons School of Design im Fachbereich Innenarchitektur ein. Ein Jahr später wird er dem Komponisten und Texter Frank Loesser 2) vorgestellt und wechselt auf dessen Rat vom Architektur- zum Theaterstudium an die University of Miami. Dort herrscht eine freigeistige Atmosphäre, die es Jerry erlaubt, sich schon früh als schwul zu outen. Er schließt sein Studium 1953 ab und kehrt nach New York zurück, wo er seinen Lebensunterhalt zunächst als Barpianist verdient. Bereits 1954 hebt sich der Vorhang zu seiner ersten Off-Broadway-Revue: I Feel Wonderful bringt es auf 49 Vorstellungen. 1958 inszeniert er in einem Nachtclub die Revue Nightcap („Schlummertrunk“). Nun sind es bereits 400 Aufführungen - und der Nachfolger Parade ist ähnlich erfolgreich.
2) Loesser schrieb u. a. Musik und Gesangstexte für „Guys and Doils“.
Der Broadway wird aufmerksam.
From A to Z ist 1960 seine erste Produktion, zu der auch der noch unbekannte Woody Allen Texte beisteuert. 1961 feiert Milk and Honey Premiere: Drei einsame amerikanische Witwen gehen in Israel auf Suche nach Ehemännern 3). Den Erfolg belegt die erste Tony-Nominierung.
3) Herman wagt sich hier an ein politisches Setting: Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund des Kampfes der israelischen Regierung um die Anerkennung des Landes als unabhängige Nation.
Nach einem Rückschlag (Madame Aphrodite) wird 1964 Hello, Dolly' sein erster Knüller. Basierend auf Thornton Wilders The Matchmaker (das sich bis auf Nestroys Posse Einen Jux will er sich machen zurückverfolgen lässt), erzählt das Musical die Geschichte der Heiratsvermittlerin Dolly Levi und des kauzigen Eigenbrötlers Horace Vandergelder. Das Musical erringt 1964 sieben Tonys, darunter die Auszeichnung als Bestes Musical. Bis 1970 werden 2.844 Vorstellungen gespielt - Bestmarke aller vor 1970 präsentierten Musicals. Carol Channing spielt in den ersten 18 Monaten die Titelrolle, als Gaststars übernehmen später u. a. Betty Grable, Ethel Merman und Ginger Rodgers. Ab 1967 läuft am Broadway parallel sogar eine zweite Version mit ausschließlich afroamerikanischen Künstlern. So etwas hat es weder zuvor noch danach gegeben.
Ein Welthit wird der später mit einem Grammy ausgezeichnete Titelsong, der im Jahr 1964 sogar Einzug in die Politik hält: Als Hello, Lyndon! wird er zum Erkennungslied der Kampagne des 36. Präsidenten der USA, Lyndon B. Johnson. 1969 wird das Musical verfilmt und mit vier Oscars® prämiert - einer davon für die beste Musik. In der New Yorker Wiederaufnahme des Musicals brilliert seit 2017 Bette Midler als Dolly Levi, 2018 erlebt Hallo, Dolly' im Hamburger Ohnsorg-Theater seine plattdeutsche Uraufführung.
1966 erobert Marne den Broadway. Bis 1970 gibt es mehr als 1.5oo Aufführungen. 1969 folgt die Premiere in London, 1970 die deutsche Uraufführung in Nürnberg. Das Musical basiert auf der fiktiven Geschichte von Patrick Dennis, der in den 1920er Jahren als zehnjähriger Waise von seiner extravaganten Tante Marne, „Amerikas diabolische Antwort auf Mary Poppins“ 4), aufgenommen wird. Ein Nachlassverwalter soll dafür sorgen, dass Patrick auch Anstand und Disziplin lernt. Das scheint schwierig. Als Marne beim Börsencrash 1929 ihr Vermögen verliert, wird es turbulent ... Am Broadway brillieren Angela Lansbury (Mord ist ihr Hobby) als Marne und Beatrice Arthur (Dorothy in Golden Girls) als deren beste Freundin Vera Charles. 1966 wird Marne in acht Kategorien für den Tony Award nominiert, drei Trophäen sind schließlich die Ausbeute.
4) Paul Rudnick: Einführung zu „Auntie Marne: An Irreverent Escapade“ von Patrick Dennis, 1955. Deutsche Übersetzung von Thomas Stegers
Ein Käfig voller Narren
Nach vier Veröffentlichungen mit teilweise zwiespältiger Aufnahme gelingt Jerry Herman 1983 mit La Cage aux Falles - Ein Käfig voller Narren sein dritter großer Wurf. Das Musical basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Jean Poiret (1973), das fünf Jahre später von Edouard Molinaro mit Michel Serrault und Ugo Tognazzi verfilmt wurde. Die Thematik „Homosexualität und Travestie“ fasziniert Jerry Herman, der aus seiner sexuellen Orientierung nie einen Hehl gemacht hat. ja sogar als Vorkämpfer der Schwulenbewegung gilt. Denn als La Cage aux Falles Premiere feiert. ist AIDS schon seit zwei Jahren nicht nur in New York und nicht nur in der Schwulenszene ein Schreckgespenst. Auch die Erstbesetzung der Broadway-Show wird durch die Epidemie stark dezimiert. 1985 infiziert sich auch Herman, aber er schafft es lange, die Folgen der Immunschwächekrankheit in Schach zu halten. Er stirbt mit 88 Jahren an einem Lungenleiden.
La Cage aux Falles ist durchaus riskant. Hier wird dem „prüden Blendax-Amerika“5 eine Liebesbeziehung zweier schwuler Männer präsentiert, von denen einer zudem noch einen Sohn hat. Das kann leicht nach hinten losgehen, zumal die Voraufführung im eher konservativen Boston stattfindet. Herman befürchtet. das Publikum könne ihn steinigen - aber stattdessen gibt es stehende Ovationen. Nach 15 Voraufführungen - viel mehr als geplant - geht's zum Broadway.
5) Manuel Brug: „Der Mann, der, I Am What I Am, schrieb, ist tot“" in: „Welt“, 27.12.2019
Auf die Premiere am 21. August 1983 folgen weitere 1.760 Vorstellungen, bevor sich der Vorhang am 15. November 1987 senkt. In der Theatersaison 1983/1984 regnet es Auszeichnungen: Sechs Tonys, darunter für Bestes Musical und Beste Musik sowie drei weitere Nominierungen, dazu noch drei Drama Desk Awards, darunter für Outstanding Music, sowie fünf weitere Nominierungen (u.a. auch für Outstanding Lyrics).
1985 erscheint die Revue Jerry's Girls mit Szenen und Songs diverser Herman-Musicals. Entwickelt und voraufgeführt wurde sie bereits 1981, noch vor dem rauschenden Erfolg von La Cage aux Falles. Die New York Times hatte sie schon da als einen „brillanten und schillernden Show-Abend“ 6) bezeichnet. 1998 endet Hermans Schaffen mit An Evening with Jerry Herman, einer Hommage an sein Lebenswerk.
La Cage aux Falles ist sicherlich das persönlichste Werk Jerry Hermans. Hier hat er mit I Am What I Am eine der Hymnen des Gay Pride geschaffen, die nicht nur für die queere Welt von herausragender Symbolik ist, sondern für alle Menschen, die zu einer Minderheit gehören oder sich einer solchen zugehörig fühlen. Es sind fünf Worte, die viel bewegt haben und immer noch bewegen: Ich bin, was ich bin.
6) John S. Wilson, New York Times, 20. August 1981
Matthias Gerschwitz
GENDER- BEGRIFFLICHER LEITFADEN
Das Musical „La Cage aux Falles“ war 1983 weltweit ein sensationeller Publikumserfolg - sensationell deswegen, weil das Stück Menschen befreiend ins Rampenlicht holte, die von der Gesellschaft in vielen Ländern oft nur mit Vorurteilen, nur selten mit Verständnis betrachtet werden.
Der Kampf gegen geschlechtliche Diskriminierung und für die Gleichberechtigung jedweder sexuellen Orientierung („I am what I am“) findet in vielen Bereichen statt - in der Politik, Wirtschaft, im Privat- und Vereinsleben, natürlich auch in der Sprache. In der öffentlichen Diskussion tauchen immer neue Begriffe zu Genderthemen auf, die nicht jedem auf Anhieb einleuchten oder gefallen. Niemand ist verpflichtet, jeden Begriff zu kennen, zu mögen oder zu verwenden. Aber wenn man die Bedeutung kennt, kann man Missverständnissen, Diskriminierung und Ausgrenzung vorbeugen. Dazu soll dieses Glossar beitragen.
Androgyn
Als androgyn werden Menschen bezeichnet, die weibliche und männliche Merkmale auf sich vereinigen, die weniger mit Sexualität als mit der äußeren Erscheinung zu tun haben.
Asexualität, asexuell
Asexuelle Menschen haben kein Bedürfnis nach Sexualität, wohl aber nach Liebe, Romantik und auch Beziehung, wobei das e>biologische Zielgeschlecht keine Rolle spielt.
Binär
Entlehnt aus der Computersprache (o oder 1).
Bedeutet hier: entweder „männlich“ oder „weiblich“, ohne Berücksichtigung möglicher Zwischenstufen.
Binnen-I
siehe Gender _ Gap
Biologisches Geschlecht
Festlegung des Geschlechts anhand von klar definierten Sexualorganen bzw. Zuweisung eines Geschlechts aufgrund einer Mehrheit binär zuzuordnender Geschlechtsmerkmale.
Bisexualität, bisexuell
Bedürfnis nach Sexualität, Liebe, Romantik, Beziehung etc., bezogen auf beide binären Geschlechter („männlich“ und „weiblich“}. Bisexuelle Menschen können die einzelnen Bedürfnisse den Zielgeschlechtern gegenüber aber unterschiedlich werten und verteilen.
Cis- Frau, Cis-Mann
Personen, bei denen das soziale Geschlecht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt.
Cross- Dressing/Cross- Dresser
siehe Transvestit
Divers
Der Geschlechtseintrag „divers“ steht für die Nichtzugehörigkeit zu einer binären Geschlechtsidentität. Oft etwas ungenau auch als r>drittes Geschlecht bezeichnet.
Drag Queen/Drag King
Die Begriffe aus der Travestie bezeichnen Männer, die sich kunstvoll als Frau zurechtmachen und weibliches Verhalten humorvoll überspitzen (Drag Queen) bzw. Frauen, die auf ebensolche Weise Männer darstellen (Drag King). In beiden Fällen identifizieren sich die Künstler weiterhin mit ihrem jeweiligen biologischen Geschlecht
(im Gegensatz zu Transgender).
Drittes Geschlecht
Heutige Bezeichnung für Menschen, die sich nicht in das r>binäre Geschlechtssystem „männlich“ oder „weiblich“ einordnen lassen können oder wollen. Der Begriff lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, wo er nicht notwendigerweise mit Sexualität verknüpft war. Wird häufig mit divers verwechselt.
Gender
Sozio-kulturelle Geschlechtsidentität, die sich in Eigenschaften, in der Selbstwahrnehmung, im Selbstwertgefühl oder in der Rollenidentität zeigt.
Gender_Gap
Der Unterstrich (Schauspieler _innen) bedeutet, dass über die Grenzen „männlich“ und „weiblich“ hinaus auch alle jene eingeschlossen werden, die sich nicht als „binär“ bezeichnen. Dies gilt auch für den t>
Gender*stern, wohingegen das Binnen-I (Schauspielerinnen) nur die binären Formen „männlich“ und „weiblich“ beinhaltet.
Gender*stern siehe e-Gender _ Gap
Geschlechtsumwandlung siehe Transsexualität
Heteronormativität
Häufig verbreitete Annahme, dass t>biologisches und c-soziales Geschlecht grundsätzlich übereinstimmen bzw. die Annahme, dass das Verhalten heterosexueller Menschen die Normalität darstellt.
Heterosexualität, heterosexuell
Bedürfnis nach Sexualität, Liebe, Romantik, Beziehung etc., bezogen auf das binär andere Geschlecht.
Homosexualität, homosexuell
Bedürfnis nach Sexualität, Liebe, Romantik, Beziehung etc., bezogen auf das binär eigene Geschlecht.
Intersexualität, intersexuell
Vorhandensein männlicher als auch weiblicher (biologischer) Geschlechtsmerkmale, die keine eindeutig t>binäre Zuschreibung möglich macht. Auch Zwischengeschlechtliche Person oder Zwitter (zumeist abwertend) genannt.
Lesbisch
Mit lesbisch bezeichnen weibliche Homosexuelle die Gesamtheit ihrer Einstellungen, ihres Lebensentwurfs und ihres Selbstverständnisses neben der Sexualität. Das Wort leitet sich von der griechischen Insel Lesbos ab, auf der die griechische Dichterin Sappho im 6. Jhd. v. Chr. in ihren Gedichten die Liebe unter Frauen besungen hat.
LGBTIQ* (auch: LSBTIQ*)
Akronym (als eigenständiger Begriff genutzte Abkürzung) für lesbisch, e-schwul (homosexuell, engl.: gay), bisexuell, transgender, intersexuell, e-queer. Das Sternchen steht als Platzhalter für weitere nicht-heterosexuelle Lebensentwürfe.
Metrosexualität, metrosexuell
Der aus metropolitan und heterosexual zusammengesetzte Begriff bezieht sich nicht auf eine sexuelle Orientierung oder eine Präferenz, sondern bezeichnet einen extravaganten Lebensstil
heterosexueller Männer, die nicht auf ein maskulines Rollenbild festgelegt sind. Der Begriff wurde 1994 vom britischen Journalisten Mark Simpson geprägt und wird häufig über das Auftreten des britischen Fußballers David Beckham definiert.
Normalität, normal
Die heterosexuelle Mehrheit geht davon aus, dass sie „normal“ sei, also den Normen entspreche, und vergisst dabei, dass die Kriterien dieser Normen ausschließlich von ihr selbst festgelegt wurden. Siehe auch Heteronormativität.
Pansexualität, pansexuell
Sexuelle Orientierung, bei der das Geschlecht oder
die Geschlechtsidentität (Gender) keine Rolle spielen. Anziehend wirken hier eher geschlechtsunabhängige Faktoren. Alternativer Begriff: Omnisexualität, omnisexuell.
Passing
Begriff aus der Transsexualität, der sich auf die Wahrnehmung und Akzeptanz von Transpersonen in ihrem anderen Geschlecht bezieht, also die Wahrnehmung und Akzeptanz einer männlichen Transperson als Mann bzw. einer weiblichen Transperson als Frau.
Polysexualität, polysexuell
Orientierung, die sich sexuell zu mehr als einem Geschlecht hingezogen fühlt.
Queer
Ursprünglich: von der Norm abweichend, heute Oberbegriff für alle sexuellen Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Lebensentwürfe jenseits der Heteronormativität. Wird besonders im politischen Sprachgebrauch verwendet.
Schwul
Mit schwul bezeichnen männliche Homosexuelle die Gesamtheit ihrer Einste!!ungen, ihres Lebensentwurfs und ihres Selbstverständnisses neben der Sexualität. Die Verwendung als Schimpfwort (schwule Sau) oder als unpassendes Synonym (schwules Auto) zeugt die nach wie vor vorhandene gesellschaftliche Missachtung und Diskriminierung.
Soziales Geschlecht
Definition des Geschlechtes über Eigenschaften, z.B. in Gesellschaft und Kultur, die einem biologischen bzw. zugewiesenen Geschlecht zugeordnet werden.
Siehe auch Gender.
Transfrau/Transmann
Transfrauen sind Frauen, die mit einem männlichen Körper geboren wurden. Entsprechend sind Transmänner Männer, die mit einem weiblichen Körper geboren wurden.
Siehe Transperson.
Transgender
Bezeichnung für Personen, deren soziales Geschlecht nicht oder nicht vollständig mit dem e>biologischen bzw. zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt bzw. die eine binäre Zuordnung ablehnen.
Transident(ität)
Synonym zu Transgender
Transperson
Menschen, die sich nicht dem binären System zuordnen lassen.
Siehe auch Transfrau/Transmann
Transsexualität, transsexuell
Transsexuelle identifizieren sich nicht über das e>biologische bzw. zugewiesene, sondern über das soziale Geschlecht. Trotz körperlicher Eindeutigkeit leben sie im „falschen Körper“. Durch langwierige operative und hormonelle Behandlungen wird das biologische Geschlecht an das soziale Geschlecht angeglichen. Der Schritt wird nicht leichtfertig unternommen und muss häufig psychologisch begleitet werden.
Transvestit
Menschen, die privat oder öffentlich, dauerhaft oder zeitweise Kleidung des anderen (biologischen) Geschlechts tragen. Ein Transvestit muss nicht zwingend homosexuell sein.
Da der Begriff eher abwertend verstanden wird, benutzt man heute eher den Begriff Cross-Dressing.
Travestie
Kunstform, die mit der Lust am Verkleiden einhergeht.
Bühnenrollen werden durch Personen des anderen (biologischen) Geschlechts dargestellt. Die Ursprünge gehen bis in die Antike zurück, als Frauen nicht auf der Bühne auftreten durften, und finden sich heute von Kleinkunst (Travestie-Cabarets) über Film („Victor/Victoria“, 1982) bis zur Oper (Hosenrolle, z.B. Leonore in „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven).
Unisex
bezeichnet Einrichtungen, Begriffe oder Produkte, die für alle biologischen Geschlechter gleichermaßen verwendbar sind, z.B. bei Parfum. Wird häufig mit androgyn verwechselt.
Zwischengeschlechtliche Person
siehe Intersexualität
Zwitter
siehe Intersexualität
Informationen
Musik + Gesangstexte: Jerry Herman
Buch: Harvey Fierstein
LA CAGE AUX FOLLES (Ein Käfig voller Narren) | Musik und Gesangstexte von JERRY HERMAN | Buch von HARVEY FIERSTEIN | Nach dem Theaterstück „La Cage aux Folles“ von JEAN POIRET | Deutsch von ERIKA GESELL und CHRISTIAN SEVERIN | Aufführungsrechte: Verlag Felix Bloch Erben, Berlin | www.felix-bloch-erben.de
Musikalische Leitung: Christoph Bönecker
Inszenierung: Tobias Materna
Choreographie [&] Co-Regie: Vanni Viscusi
Kostümbild: Gisa Kuhn
Bühnenbild: Jörg Brombacher
Licht: Rolf Essers
Produktionsleitung: Anna-Luise Hoffmann
Dramaturgie: Matthias Gerschwitz
Orchester: Kammerphilharmonie Lübeck (KaPhiL!)
Besetzung
Albin / Zaza: Uwe Kröger
Georges: Livio Cecini
Jean-Michel: Julian Culemann
Jacob: Marc Chardon
Anne: Jasmin Eberl
Jacqueline: Yvonne Disqué
Francis: Robert Stumpf (+ Cagelle)
Tabarro / Jules: Mario Zuber
Monsieur Dindon: Mariano Skroce
Madame Dindon: Karin Westfal
Babette: Sofia Coretti
Dasha: Jessica Falceri
Phaedra: Arvid Johansson
Masha: Christine Lecke (DC)
Bobby: Verena Kollruss
Mercedez: Tobias Stemmer
Chantal: Laurent N´Diaye
Helga: Christian Rosprim
Clo-Clo: Francesco Riccardo Dall´Aglio
Hannah: Simon Lausberg
Foto: André Walther
Dauer: 1. Akt: 75 Min 1, 2. Akt: 60 Minuten
Pause nach dem 1. Akt: 30 Minuten
Künstlerisches Team
Hinweis: Die historischen Texte und Abbildungen dieser Rückschau (bis in die 1950er Jahre) stammen aus den jeweiligen Programmheften und Fotosammlungen und spiegeln ihre Zeit. Sie könnten Begriffe und Darstellungen enthalten, die heute als diskriminierend oder unangemessen gelten. Die Eutiner Festspiele distanzieren sich daher ausdrücklich von solchen Inhalten. Auch die Erwähnung teils umstrittener Persönlichkeiten erfolgt ausschließlich im historischen Zusammenhang. Der digitale Rückblick soll Geschichte transparent machen und zur kritischen Auseinandersetzung mit Sprache, Haltung und Zeitgeschehen anregen. Wo erforderlich, ergänzen wir erläuternde Hinweise. Hinweise auf sachliche Fehler oder notwendige Kontexte nehmen wir gerne unter info@eutiner-festspiele.de entgegen.