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Cabaret

Willkommen, bienvenue, welcome!

Auf der Bühne und im Kino ist das Musical „Cabaret“ international ein Liebling eines jeden Publikums. 1966 erstmals am Broadway aufgeführt, spiegelt diese Liebesgeschichte aus dem Berlin der späten „Goldenen Zwanziger“ ebenso mitreißend wie nachdenklich stimmend den turbulenten Zeitgeist zum Ende der Weimarer Republik.

Cabaret – Willkommen, bienvenue, welcome!

Auf der Bühne und im Kino ist das Musical „Cabaret“ international ein Liebling eines jeden Publikums. 1966 erstmals am Broadway aufgeführt, spiegelt diese Liebesgeschichte aus dem Berlin der späten „Goldenen Zwanziger“ ebenso mitreißend wie nachdenklich stimmend den turbulenten Zeitgeist zum Ende der Weimarer Republik. Mit „Willkommen, bienvenue, welcome!“ lieferte der Erfolgskomponist John Kander („New York, New York“) die Erkennungsmelodie Nr. 1 für Musicals allgemein, speziell natürlich für „Cabaret“.

Erzählt wird die Geschichte des US-Schriftstellers Clifford Bradshaw, der in Berlin Inspirationen für ein neues Buch sucht. Ein Reisegefährte schickt ihn in den Kit-Kat-Klub, wo er die Sängerin Sally Bowles kennenlernt. Beide werden ein Paar, sie wohnen zusammen in der Pension von Fräulein Schneider. Auf die hat der Obstverkäufer Herr Schultz ein Auge geworfen, doch dessen Hoffnungen platzen: Fräulein Schneider wird gewarnt, einen Juden zu heiraten. Und auch für Sally und Clifford scheint nicht mehr lange die Sonne: Als sie schwanger wird, will sie ihre Cabaret-Karriere nicht aufgeben. Er hingegen sieht die Gefahr einer gewaltsam werdenden Juden- und Fremdenfeindlichkeit in der heraufziehenden Nazi-Diktatur. Er will mit Sally Berlin verlassen, doch sie will bleiben: Was hat denn die Politik mit ihrem Leben zu tun? Wir wissen, wie’s endet …

 

WILLKOMMEN - BIENVENUE - WELCOME

Berlin am Vorabend der 3oer-Jahre. Die Stadt ist trotz politisch unruhiger Zeit ein Anziehungspunkt für Menschen aus allen Ländern. So auch für Clifford Bradshaw, den jungen amerikanischen Schriftsteller, der in der deutschen Hauptstadt Material für einen Roman sammeln will. Im Zug trifft er den Devisenschmuggler Ernst Ludwig, der ihm ein Zimmer in Fräulein Schneiders Pension vermittelt. Dort lernt Cliff den Obsthändler Schultz kennen.

Ludwig lädt den Neuankömmling noch am selben Abend in den berühmt-berüchtigten Kit-Kat-Club ein - einen Amüsiertempel mit einem zynisch-schmierigen Conferencier, halbnackten Girls und einer extrovertierten Sally Bowles, die für Geld nicht nur singt. Sie ist zwar mit dem Clubbesitzer Max liiert, verliebt sich aber Hals über Kopf in Cliff, und auch er ist fasziniert von ihr. Tags darauf steht Sally vor seiner Tür. Max hat ihr den Laufpass gegeben, sie sucht eine Bleibe und kann Cliff überreden, sie bei sich aufzunehmen.

Cliff und Sally sind jetzt seit einiger Zeit zusammen, aber auch offen für Affären. Als Sally schwanger wird, gibt sie vor, nicht zu wissen, von wem. Sie denkt auch an Abtreibung, aber Cliff will sie davon abhalten und mit ihr in den USA eine neue Existenz aufbauen - es könnte ja auch sein Kind sein. 1) Da er Geld braucht, bietet ihm Ernst Ludwig an, in seinem Auftrag Devisen aus Paris nach Berlin zu schmuggeln.

1) In der Buchvorlage „Leb wohl Berlin" sind Sally und Cliff (Christopher Isherwood) lediglich Freunde; in der Abtreibungsklinik gibt Sally ihn als Vater aus, um sich unnötige Fragen zu ersparen. In „I am A Camera“ - und damit auch im Musical „Cabaret“ - wird der schwule Christopher Isherwood als Erzähler allerdings den moralischen Gegebenheiten der Zeit entsprechend heterosexualisiert und kommt plötzlich als Vater in Frage ...

Neben Herrn Schultz wohnt in der Pension auch Fräulein Kost, die - sehr zum Missfallen der Wirtin - eine kostenpflichtige Vorliebe für die „blauen Jungs“ von der Marine hat. Aber auch Fräulein Schneiders Ruf ist in Gefahr: Der eher scheue Herr Schultz versucht erfolgreich, sie mit exotischen Früchten zu becircen - und wird ertappt, als er aus ihrem Zimmer kommt. Um seine Angebetete zu retten, behauptet Schultz, dass er Fräulein Schneider heiraten werde. Die ist zwar überrascht, aber nimmt gerührt den Antrag an.

Sally arrangiert die Verlobungsfeier von Fräulein Schneider und Herrn Schultz. Cliff, gerade aus Paris zurück, übergibt Ludwig Ernst eine Tasche mit den geschmuggelten Devisen. Jener zeigt sich jetzt ganz offen als Nationalsozialist und warnt Fräulein Schneider davor, einen Juden zu heiraten - aber Herrn Schultz macht er damit keine Angst, denn der fühlt sich trotz seines Vornamens Isaak als Deutscher. Da stimmt Fräulein Kost voller Berechnung die politisch aufgeladene Hymne „Der morgige Tag ist mein ... „ an.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf - und nichts wird so bleiben, wie es war.

Auf Wiedersehn - a bientôt...

 

 

BERLIN - DAS ANDERE BABYLON

Beim Thema „Berlin in den Zwanzigern“ denkt man seit einiger Zeit mit Recht an die TV-Reihe „Babylon Berlin“ auf Basis der Bücher von Volker Kutscher, die einem Millionenpublikum wohlige Schauer über den Rücken gejagt und den Begriff „Babylon“ dramatisch wiederbelebt hat. Wurde einst die Welthauptstadt der Antike so bezeichnet, dient er seitdem als Synonym für alles, das jenseits der gesetzestreuen Vorstellungskraft liegt, tief im menschlichen Innern aber eine unausgesprochene Faszination - die Faszination des Bösen, des Verbotenen - ausübt.

Babylon: erste Mega-City der Geschichte und größter irdischer Gegenspieler der Religion. Als Zentrum der Unmoral und des Verbrechens zugleich Bindeglied zwischen antiker Geschichte und moderner Zivilisation, Sinnbild für Größenwahn (Turmbau zu Babel) 1). die unweigerliche Entfremdung der Gesellschaft („babylonische Sprachverwirrung“) 2) und für die Herrschaft, die Unterdrückung und die Korruption.

1) „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.“ (1. Mose 11,4). Theologen interpretieren den Turmbau zu Babel als überheblichen Versuch, Gott nahekommen zu wollen.

2) „Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe'„ (1. Mose 11, 6-7)

Bereits in der biblischen Offenbarung des Johannes wird Babylon als Mutter aller Huren und der Gräuel der Erde bezeichnet. 3) Beste Voraussetzungen also für einen Vergleich mit Berlin, beste Voraussetzungen also für eine gediegene Subkultur.

3) „Die grosse Babylon/ die Mutter der hurereyvnd aller grewel auff Erden“ (Offenbarung 17,5; Übersetzung von Martin Luther 1545)

Dabei ist in der Kultur der Zwanziger Jahre gar nicht alles „Sub“ in Berlin. Man trifft sich am Hermannplatz auf der Karstadt-Dachterrasse ebenso wie im „Bermuda-Dreieck“ zwischen Bülowstraße und Wittenbergplatz, wo eine große Anzahl schwule und lesbische Vergnügungsstätten auf Gäste warten. 4)

4) „Es gibt hier 170 von der Polizei überwachte einschlägige Bars und Gaststätten“, schreibt WH. Auden an Christopher Isherwood 1929. (Julius H. Schoeps: „Where love is mostly hugger mugger“ Christopher Isherwood, Magnus Hirschfeld und das Berlin am Vorabend der Katastrophe)

Oder im Moka Efti, einer Mischung aus Bar, Restaurant, Tanzlokal, multisexuellem Bordell und Treffpunkt der Unterwelt. Das Haus Vaterland am Potsdamer Platz bietet ein Dutzend Motto-Restaurants von den Rheinterrassen mit stündlichem Wolkenbruch und Kunstgewitter bis zur Arizona-Bar mit Wild West-Flair.

Theater, Kino, Variete, Revue ... das Jahr hat gar nicht so viel Tage, wie man in Berlin mit Kultur verbringen könnte. Oder Vergnügen. Oder Beidem. Curt Morecks Führer durch das lasterhafte Berlin 5) lässt den Leser tief in die pulsierende Metropole eintauchen und listet in der Legende, natürlich unvollständig, 130 Etablissemangs aller Kulör auf. Übrigens starten die sagenumwobenen „Goldenen Zwanziger“ nicht mit Beginn des Jahrzehnts, sondern kommen erst nach dem Ende der Inflation 1923 in Fahrt, überdauern die Weltwirtschaftskrise 1929 und enden abrupt und gemeinsam mit der Weimarer Republik. Aber Babylon beginnt schon viel früher.

5) Curt Mo reck: "Führer durch das lasterhafte Berlin - Das deutsche Babylon 1931“. bebra-Verlag Berlin 2018 (NA)

Die Nation hat viel aufzuholen. 1871 als Deutsches Reich fulminant mit dem Rückenwind dreier gewonnener Kriege gestartet, landet Deutschland mit der Niederlage im Weltkrieg 1918 unsanft auf dem sprichwörtlichen Hintern. „Heil dir im Siegerkranz, nimm was du kriegen kannst ... „ wird nach der Abdankung von Wilhelm II. die Kaiserhymne, nunmehr a. D., verballhornt. Die Monarchie ist nur noch eine Fußnote der Geschichte, aber sie hat der in Rekordzeit aus dem Boden gestampften Republik die finanzielle Insolvenz vererbt. Reparationszahlungen können kaum geleistet werden, die Inflation - Man ging mit einem Wäschekorb voller Geld einkaufen und konnte das Gekaufte ins Portemonnaie stecken - lässt sich nicht aufhalten. 6)

6) Mehr zu diesem spannenden Thema: "Inflation: Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas“ von Frederick Taylor, übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt. Siedler Verlag 2013.

Im Januar 1919 wird von den Kriegsalliierten erstmals das Rheinland besetzt. Und als wäre das nicht genug: politische Unruhen, Putschversuche, Not und Hunger. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“, schreibt Paul Zech und greift das biblische Bild von Babylon wieder auf: „Berlin, das ist ein Höllenpfuhl/ da hockt die Hure Zeitvertreib/ in einem goldnen Schaukelstuhl/ und bläht ihn auf, den blanken Leib/ und schluckt mit Haut und Haar die Knaben/ die ihren Vater längst vergessen haben.“ 7)

7) Paul Zech: „Berlin, halt ein ... „ (1918); die Formulierung „Berun, dein Tänzer ist der Tod“ wurde vielfach verwendet: für ein Plakat zur Warnung vor der Spanischen Grippe, als Titel eines Gedichts von Walter Mehring und als Textzeile eines Couplets von Friedrich Hollaender („Fox macabre“).

Doch die Knaben haben ihre Väter nicht vergessen, sondern im Felde verloren; nun irren sie ziellos durch die Stadt, um selbst zu vergessen und sich zu zerstreuen. Da kommt das zügellose Genussleben, der Tanz auf dem Vulkan 8), gerade recht. Der Vulkan - das ist aber auch die Politik. Es gibt keine Strategie, keine Ruhe, keine Einkehr. Rückwirkend bekommt man gelegentlich das Gefühl, die Republik sei eigentlich gar nicht ernst gemeint gewesen, sondern nur die unauffällige Verpackung eines frivolen Hedonismus' mit Hang zum dauerhaften Exzess.

8) Auch wenn der gleichnamige Film (bekannt ist vor allem der Schlager: „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da ... „) erst 1938 herauskam, existiert der Begriff an sich schon viel länger. Der Regisseur Hans Steinhoff trug sich nämlich fünfzehn Jahre lang mit dem Projekt, bevor er es endlich realisierte. Die Idee einer Rebellion gegen ein bestehendes System passte dann zwar nicht mehr in die NS-Dogmatik, trotzdem ließ Goebbels den Film zu.

Für die meisten Berliner aber ist diese Zeit die Hölle. Sie haben kein Geld für Kultur, erst recht nicht für den Exzess. Familien leiden bittere Not. Staatliche Unterstützung gibt es nur in geringem Umfang, Kindergeld überhaupt nicht.

Kriegsheimkehrer haben nicht nur mit körperlichen Gebrechen, sondern auch mit der Verarbeitung von Traumata zu kämpfen. Direkt nach dem Krieg fehlen über 100.000 Wohnungen. Dazu kommen Krankheiten: Diphterie, Tuberkulose und Rachitis, insbesondere aber die Spanische Grippe fordern alleine in Berlin zehntausende Opfer. Die Lebensumstände sind dramatisch: „Wie die Menschen, so haben auch die Gebäude eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. [. .. ] Um eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muss man in die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den traurigeren zweiten, man muss die blassen Kinder beobachten, die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier oder mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet hat“, beschreibt der literarische Flaneur Franz Hesse! seine Eindrücke noch viele Jahre später. 9)

9) Franz Hesse/: „Spazieren in Berlin“ (1928), Neuausgabe Berliner Taschenbuch Verlag, 2012

Egal, ob morgen alles in die Luft geht - heute wird gefeiert! So lange und so bunt, so rauschend und so frivol wie möglich. Kaum zu glauben: Gerade die Armut beflügelt die neue sexuelle Freizügigkeit. Wer nichts hat, kann immer noch sich selbst verkaufen' Es ist nicht das Laissez-faire, als das es heute ebenso gerne wie falsch verklärt wird - es ist der nackte Kampf ums überleben. Und Nacktheit ist angesagt: Die hüllenlose Anita Berber gilt als wildeste Frau der Weimarer Republik und sündigste Ikone Berlins. 10) Das goutieren die Reichen und Schönen, die Schieber und Kriegsgewinnler. Sie können sich den Tanz auf dem Vulkan -viel eher ist es ein Tanz auf dem Rücken der Schwächsten der Gesellschaft - locker leisten. Sie sind eine Minderheit, aber sie prägen das Bild der erwartungsschwangeren Touristen, die nach Berlin strömen und am Anhalter oder Stettiner Bahnhof aus dem Zug steigen - oder wie Christopher Isherwood im März 1929 am Bahnhof Friedrichstraße.

10) Anita Berber (10.06.1899-10.11.1928). Nackttänzerin und Selbstdarstellerin.

Für Isherwood ist die Ankunft ein Versprechen. Berlin soll eine Offenbarung werden - und eine Flucht vor der übergriffigen Mutter. Gelockt hatte ihn sein Studienfreund, der Schriftsteller W. H. Auden 11) mit dem Satz: „Berlin ist der Traum jedes Schwulen“. Er freut sich auf ein Leben voller „Jungs“ in dieser freien und wilden Stadt, in der kreuz und quer geliebt und miteinander geschlafen wird. Später trifft er auf die junge Britin Jean Ross, aus der er die Figur der Sally Bowles entwickeln wird, die zur „Cabaret“-Ikone avanciert.

11) WH. Auden war wie Isherwood später mit Thomas Manns Sohn Klaus (Autor von u. a. „Mephisto“) befreundet. Er verhalf 1935 dessen Schwester Erika durch eine Scheinehe zu einem britischen Pass und damit zur gefahrlosen Ausreise aus dem III. Reich.

Isherwood erlebt Berlin in einer Zwischenphase. Außenpolitisch hat Deutschland wieder seinen Platz gefunden - die Aufnahme in den Völkerbund 1926 war ein großer Erfolg des Außenministers Gustav Stresemanns. Nach innen ist die Republik aber immer noch nicht gefestigt, genau genommen ist sie es weniger denn je. In vielen Köpfen spuken noch die vermeintlich besseren Zeiten der Monarchie. Und wenn es schon kein Kaiser sein kann, dann eben ein anderer starker Mann. Die Vorbereitungen dazu trifft die SA auf der Straße.

Kunst war und ist immer politisch, aber viele Künstler wollen sich in keine Ecke drängen lassen. Einige sehen in der dräuenden Zukunft allerdings ihre Chance, andere wiederum - speziell homosexuelle und/oder jüdische Künstler - werden von düsteren Ahnungen befallen. Friedrich Hollaender textet in seiner Revue Spuk in der Villa Stern 1931 das Couplet: An allem sind die Juden schuld! 12) Hollaender, eigentlich unpolitisch, erweist sich als Prophet, der später ebenfalls emigrieren muss. Aus dem Vulkan, auf dem man tanzt, wird langsam aber sicher Messers Schneide. „Die libertäre Halbwelt, in der sich Isherwood bewegt, taumelt dem Abgrund entgegen“, schreibt Judith Luig 2014 anlässlich der Vorstellung einer neuen Übersetzung des Buchs Leb' wohl, Berlin. 13)

12) Uraufführung September 1931. „Vor knapp 90 Jahren schrieb Friedrich Hollaender das zynisch-satirische Couplet .An allem sind die Juden schuld'„ in dem er zur Melodie einer Arie aus „Carmen“ die gängigen antisemitischen Klischees ad absurdum führte.“ (jg-berlin.org;Jüdische Gemeinde zu Berlin, 01.05.2020)

13) Judith Luig: „Als Berlin dem Abgrund entgegen taumelte“ in: Berliner 14 Morgenpost, 14.10.2014

Im Mai 1933 verlässt Isherwood Berlin gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Heinz Neddermeyer. Da sind die meisten Etablissements, die Curt Moreck in seinem Führer durch das lasterhafte Berlin aufgelistet hatte, geschlossen, neu bewirtschaftet oder von der Partei zweckentfremdet. Aus gleichgeschlechtlich wird gleichgeschaltet.

„Berlin ist kein Versprechen mehr. Berlin ist ein Urteil. >Dutzende meiner Freunde sind im Gefängnis, vermutlich tot<~ ... „, resümiert Isherwood. 14)
Die Goldenen Zwanziger sind Geschichte.

14) Morgenpost, 14.10.2014

 

Matthias Gerschwitz

 

LEB WOHL, BERLIN!

Wenn Sie einen Untermieter aufnehmen, sollten Sie vorsichtig sein, sonst geht es Ihnen vielleicht wie Meta Thurau aus der Nollendorfstraße 17 in Berlin-Schöneberg. Sie kennen Meta Thurau nicht? Sie werden sie heute kennenlernen: Sie diente als Blaupause für die Zimmerwirtin „Lina Schroeder“ aus dem Roman „Leb wohl, Berlin“ von Christopher lsherwood. Der wiederum war in Kombination mit „Mr. Norris steigt um“ die Vorlage für das Bühnenstück“/ I am a Camera“ (John van Druten, 1951)- und aus diesem schufen)oe Masteroff (Buch), John Kander (Musik) und Fred Ebb (Texte) das Musical „Cabaret“. Allerdings wurde zwischen Buch und Bühnenstück aus „Fräulein Schroeder“ - warum auch immer - „Fräulein Schneider“.

Wie autobiographisch beide Romane sind, zeigen die Figuren: In Mr. Norris steigt um nutzt Isherwood für den Erzähler (sich selbst) noch den Namen „William Bradshaw“, in Leb wohl, Berlin verwendet er den Namen „Christopher Isherwood“ - und bleibt auch damit er selbst, denn sein voller Name lautet Christopher William Bradshaw-Isherwood.

Allerdings legt er schon im Vorwort Wert auf die Tatsache, dass dies keinerlei autobiographische Bedeutung habe: >„Christopher Isherwood< ist nicht mehr als eine zweckdienliche Bauchrednerpuppe“ 1) Im Musical schließlich wird aus ihm „Clifford Bradshaw“ - und so verweben sich im Bühnenstück und im Musical Figuren und Geschichten aus beiden Romanen; aus Meta Thurau wird „Fräulein Schneider“, aus der Zugbekanntschaft Gerd Hamilton, einst Titelfigur in Mr. Norris steigt um, wird der Schmuggler Ernst Ludwig. Und aus seiner Mitbewohnerin Jean Ross, einer britischen Schauspielerin aus privilegierten Verhältnissen und zugleich glühenden Marxistin, wird die exaltierte „Sally Bowles“.

1) Christopher Isherwood: „Leb wohl, Berlin“, Hoffman und Campe

Die hat allerdings mit Politik dann nicht mehr soviel am Hut - oder besser: an der Melone. Denn diese Kopfbedeckung ist spätestens seit der Verfilmung des Musicals auf immer und ewig mit ihr verbunden.

Christopher Isherwood wird am 26. August 1904 als älterer von zwei Söhnen eines Offiziers geboren, der im Ersten Weltkrieg fällt. In seiner Schulzeit freundet er sich unter anderem mit Wystan Hugh (W. H.) Auden an, der sich später ebenso wie er der Literatur zuwendet.

Nach dem Schulabschluss beginnt Isherwood zunächst in Cambridge ein Studium der Geschichtswissenschaft, aber er fällt im zweiten Semester durch eine wichtige Prüfung und wird gebeten, die Universität zu verlassen. Daraufhin schreibt er sich in London für Medizinvorlesungen ein, bricht jedoch auch diese bald wieder ab. Stattdessen packt er, sehr zum Unwillen seiner Mutter, die Koffer und folgt W. H. Auden 1929 nach Berlin. Dessen begeisterter Bericht vom freizügigen Leben in der deutschen Hauptstadt hatte seine Neugier geweckt.

In Berlin findet er zunächst Unterkunft bei Recha Tobias.2 Die Schwester von Magnus Hirschfeld, dem Sexualforscher und Verfechter der Theorie des „dritten Geschlechts“ 3), der in Berliner Schwulenkreisen auch als Tante Magnesia bekannt ist, unterhält eine große Wohnung im Gebäude von Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft am Rande des Tiergartens. Wäre Isherwood dort wohnen geblieben, hätte er vielleicht nie Jean Ross kennengelernt- und weder sein Buch noch das Musical Cabaret oder dessen Verfilmung wären entstanden.

2) Recha Tobias wurde 1857 im pommerschen Kolberg geboren und nach ihrer Deportation (17 August 1942) am 28. September 1942 im KZ Theresienstadt ermordet. (https://www. stoIpersteine-berlin.de/en/biografie/4912)

3) Der Begriff basiert auf dem Titel des 1904 erschienenen Buchs von Magnus Hirschfeld, „Berlins drittes Geschlecht: Das homosexuelle Leben um das Jahr 1900“. Hirschfeld (* 14.05.1868, Kolberg - † 14.05.1935, Nizza) hatte am 15. Mai 1897 das Wissenschaftlichhumanitäre Komitee gegründet, um eine kritische Öffentlichkeit für die Streichung des § 175 StGB („Verbot homosexueller Handlungen“) zu mobilisieren, und am 6. Juli 1919 auch das „Institut für Sexualwissenschaft“ ins Leben gerufen.

Isherwood zieht jeden Abend durch die Szenelokale, besonders gerne durch die einfachen und anrüchigen Stricherkneipen in der Umgebung des Halleschen Tors. Sein Stammlokal wird das laut Eigenwerbung „weltbekannte“ Cosy Corner in Kreuzberg. Hier verkehren einfache, zumeist arbeitslose junge Männer, die ihn reizen, auch wenn er sie finanziell aushalten muss. Einer davon ist Bubi, Berthold Szczesny- blond, blauäugig, Abenteurer, Barkeeper und Boxer; mit seinem sudetendeutschen Ursprung für Isherwood die Inkarnation des „deutschen Jungen“, auf den er in Berlin zu treffen hoffte. Allerdings wird Bubi von der Polizei gesucht und muss untertauchen. Er flieht nach Amsterdam und heuert als Hilfsmatrose auf einem Schiff nach Südamerika an.4 Bubi und Isherwood werden sich 1949 in Buenos Aires wiedersehen.

4) Norman Page: „Auden and Isherwood - The Berlin Years“, Palgrave Macmillan, 1998

Isherwood finanziert sein Leben in Berlin durch Zuwendungen seines Onkels Henry; zudem kann er, da er die deutsche Sprache fließend beherrscht, mit Sprachunterricht weiteres Geld verdienen.

Zu seinen Schülern gehört der jüdische Kaufhausbesitzer Wilfrid Israel 5), Vorbild der Romanfigur „Bernhard Landauer“. Israel bittet Isherwood mehrfach eindringlich, sich mit seinen Möglichkeiten als Ausländer gegen die immer stärker werdenden Nationalsozialisten zu engagieren - der aber möchte, wie viele Künstler zu jener Zeit, lieber neutral bleiben. Auch der wiederholte Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Plünderung von Israels Wohnhaus ändern nichts an seinem Standpunkt. Zum letzten Mal sehen sich die beiden kurz vor Isherwoods Abreise auf dem Opernplatz bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Im Roman wird die Figur „Landauer“ aus „dramaturgischen Gründen“ (Isherwood) noch im selben Jahr von den Nazis ermordet; in realiter kommt Israel 1943 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.

5) Wilfrid Israel war der Urenkel von Nathan Israel, der das traditionsreiche Kaufhaus N. Israel 1815 im Berliner Zentrum gegründet hatte. Wilfrid Israel setzte sich 1939 nach England ab, das Unternehmen wurde kurz darauf arisiert, das Kaufhaus selbst fiel 1943 den Bomben zum Opfer.

Isherwood verlässt die Wohnung von Recha Tobias im Oktober 1930 und zieht nach Kreuzberg, zunächst in die (heute verschwundene) Simeonstraße einen Monat später in die Admiralstraße am Kottbusser Tor, vier weitere Wochen später wechselt er in die Schöneberger Nollendorfstraße zu Meta Thurau, wo er bis zu seiner Abreise leben wird.

Im März 1932 lernt Isherwood den rz-jährigen Heinz Neddermeyer kennen; die beiden verlieben sich leidenschaftlich. Heinz steht Modell für die Figur des „Otto Nowak“ in Leb wohl, Berlin. 6) In diesem Roman lebt „Otto“ mit seinen Eltern und den Geschwistern „Lothar“ und „Grete“ in einer Zweizimmer-Wohnung in der Simeonstraße und teilt sich mit dem älteren Bruder die Schlafstatt.

6) Paul Piazza: „Christopher Isherwood: Myth and Ann-Myth“, Columbia University Press 1978; andere Quellen (Rory MacLean: „Berlin: Imagine a City“; Weidenfeld & Nicolson 2014) nennen einen Walter Wolff als Vorlage des Otto Nowak. Wolff scheint aber laut z. B. Drewey Wayne Gunn: „Gay Novels of Britain, Ireland and the Commonwealth, 1881-1981: A Reader's Guide“ (Macfarland 2014) eine frühere und nur kurzzeitige Affäre gewesen zu sein.

Als Herr Christoph, wie Mutter Nowak ihn ehrfurchtsvoll nennt, sich als eine Art „Schlafbursche“ 7) in der Wohnung einmietet und darauf besteht, mit seinem Liebhaber das Bett zu teilen, muss „Lothar“, der sich den Nationalsozialisten angeschlossen hat, im Bett seiner kleinen Schwester unterkommen; dafür, wie auch für die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Christoph und Heinz, verabscheut er den Eindringling8 - Tatsächlich hat auch Heinz Neddermeyer einen Bruder, der das NS-Parteibuch besitzt: Gerhardt. Und der wirft Isherwood, als die Mutter mit Tuberkulose ins Sanatorium kommt, umgehend aus dem Haus.

7) In den Zeiten der Industrialisierung strömten so viele Arbeitssuchende in die Großstädte, dass (bezahlbare) Wohnung knapp wurden. Um selbst über die Runden zu kommen, vermieteten Menschen ihre Betten für die Zeit, in denen sie selbst einer Beschäftigung nachgingen, an wohnungslose Arbeiter, die man in Berlin "Schlafburschen“ nannte.

In Deutschland verdichten sich die Wolken am politischen Horizont. Die Berufung Adolf Hitlers zum Reichskanzler rückt immer näher, auch für Homosexuelle wird es eng. Die immer brutaler werdenden Übergriffe der Nazis werden jetzt auch dem neutralen Künstler zu gefährlich.

Am 13. Mai 1933 schließlich fliehen Isherwood und Neddermeyer zunächst nach London, wo Isherwood versucht, seinem Lebensgefährten einen britischen Pass zu besorgen - vergeblich. Daraufhin reisen sie kreuz und quer durch Europa und Nordafrika, leben mal hier und mal dort, und immer auf gepackten Koffern. Am 12. Mai 1937 wird Neddermeyer von Luxemburg aus nach Deutschland abgeschoben, von der Gestapo aufgegriffen und zu 3 1/2 Jahren Arbeitslager und Militärdienst verurteilt, aber ohne nähere Begründung schon bald wieder entlassen. Er heiratet 1938 und bekommt 1940 einen Sohn 9). Erst 1952 sehen sich die früheren Liebhaber wieder. Als Isherwood 1976 seine Autobiographie Christopher and His Kind veröffentlicht, ist Heinz von der freizügigen Beschreibung schockiert und bricht abrupt und endgültig den Kontakt ab.

8) nach Jens Dobler: „ Von anderen Ufern. Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain“, Berlin 2003.

9) Scheinehen und Scheinfamilien waren in den Zeiten des §175 StGB oft die einzige Möglichkeit, sich „geläutert“ zu zeigen und damit strafrechtlichen Verfolgungen zu entgehen - auch später noch in der Bundesrepublik.

10) Christopher Isherwood: „Christopher and His Kind“, Sylvester & Orphanos 1976, deutsche Ausgabe: „Christopher und die Seinen“, Bruno Gmünder Verlag 1992

Nach Heinz' Abschiebung schließt sich Isherwood wieder seinem Freund W. H. Auden an. 1939 wandern beide in die USA aus. Isherwood schlägt seine Zelte zunächst in New York auf, reist dann aber mit dem Überlandbus bis nach Kalifornien. „Los Angeles ist ein großartiger Platz, um sich zuhause zu fühlen, weil jeder von woanders komrnt“, sagt er, auch wenn er die Stadt hässlich findet. 11) Bald darauf kommt er in Kontakt mit dem Hinduismus, der sein Leben sehr stark beeinflussen wird. Der entspannte Umgang mit der in christlichen Kreisen verpönten Homosexualität fasziniert ihn ebenso wie das Fehlen von Sünde und Schuld. Er überlegt, Mönch zu werden, aber die unabdingbar eingeforderte sexuelle Enthaltsamkeit hält ihn davon ab.

11) James J. Berg: „Conversations with Christopher Isherwood“, University Press of Mississippi

1946 wird er amerikanischer Staatsbürger. Kurz zuvor hatte er den 17 Jahre jüngeren Fotografen William („Bill“) Caskey kennengelernt, mit dem er sechs Jahre lang liiert sein wird. Ende der Vierziger Jahre ziehen die beiden nach Santa Monica, doch außer beruflichen Interessen und der Renovierung des Hauses bleibt nicht mehr viel Gemeinsames übrig.

1951 zieht Isherwood aus. Zwei Jahre später, am Valentinstag 1953. trifft der mittlerweile 48 Jahre alte Schriftsteller am Strand auf den 18-jährigen Don Bachardy. Freunde geben den beiden keine Chance, die aber lassen sich davon nicht beirren:

Die Beziehung hält bis zu Isherwoods Tod. Allerdings muss Bachardy hart kämpfen, um sich aus dem Schatten des älteren Freundes zu lösen und sich als eigenständiger Maler positionieren zu können.

Obwohl er sich immer wieder, nicht nur in seinen Büchern, über seine Homosexualität definiert hat, schafft Isherwood erst mit dem Buch Christopher and His Kind 1976 sein vollständiges Coming-out. Nun engagiert sich das Paar, mittlerweile eine Vorzeige-Beziehung in der schwulen Welt, auch offen in der Gay Pride-Bewegung. Der Maler David Hockney portraitiert sie 1968, der Schriftsteller Armistead Maupin (Tales ofthe City) bezeichnet die beiden im Stile der US-Präsidenten als „First Couple“. Am 4. Januar 1986 stirbt Christopher Isherwood an Krebs.

Von seinen dreißig Büchern sind neben den Berlin Stories (Leb wohl, Berlin und Mr. Norris steigt um) A Single Man (1964, Der Einzelgänger) und das erwähnte Christopher and His Kind wohl die bekanntesten, weil persönlichsten Werke. Neben dem Schreiben arbeitete Isherwood auch als Drehbuchautor in Hollywood, war mit Schauspielern, Schriftstellern und Komponisten befreundet und hielt von 1959 bis 1962 in Los Angeles eine Gastprofessur für moderne englische Literatur. Bereits 1949 war er in die American Academy of Artsand Letters aufgenommen worden.

Von Christopher Isherwood ist etliches bekannt und vieles überliefert. Nur über seine frühen Lebensgefährten hüllt sich ein schier undurchdringlicher Nebel. Das hat auch durchaus nachvollziehbare Gründe: Homosexualität stand unter Strafe, und ein frühes Coming-out hätte zudem Onkel Henry dazu bewogen, die monatlichen Schecks zu sperren - von der Enttäuschung der Mutter ganz zu schweigen. So hat es Isherwood geschickt verstanden, seine Berliner Amouren in Romanen zu verstecken und alle Spuren zu verwischen. Heute lässt sich nur schwer feststellen, ob Namen und Personen dieser Zeit dem realen Leben oder den Romanen entstammen. Fast jeder, der sich mit dem Thema befasst, kommt zu einem anderen Ergebnis.

Als sich Isherwood 1976 endlich outet, sind Fakt und Fiktion der Berliner Zeit in seiner Erinnerung schon lange vermischt. Aber er hat - und das begründet seinen Ruhm - in seinen Berlin-Romanen eine ebenso treffende wie treffliche Beschreibung der freien und ungezügelten Begierde, aber auch der vorbehaltlosen Liebe in der wahrscheinlich unbekümmertsten Zeit der deutschen Hauptstadt abgegeben. Und der Leser muss erstaunt feststellen: Liebe - egal von und zu wem - ist letzten Endes immer dieselbe Seite derselben Medaille.

Matthias Gerschwitz

 

REIZVOLLE AUFGABE

Christoph Bönecker hat nach dem Studium an der Folkwang Universität der Künste schnell Fuß, gefasst in der Welt der Musicals. Als musikalischer Leiter ist er seit langem bei international erfolgreichen Produktionen gefragt. An Cabaret" findet er besonders reizvoll die Parallelen zwischen den aktuellen Ereignissen und der Zeit von 100 Jahren.

Herr Bönecker, Ihre Karriere ist gepflastert mit musikalischen Leitungsaufgaben bei bedeutenden Musical-Produktionen in Großstädten wie Hamburg, Shanghai oder Berlin. Jetzt geben Sie den Takt an für Cabaret bei den Eutiner Festspielen, wie erleben Sie den Wechsel an die Naturbühne in der Kleinstadt?

Was mich an dem Wechsel gereizt hat, war - neben der wunderschönen Gegend - das Aufführen von Musicalklassikern, die in einem En-suite-Betrieb mit acht Vorstellungen pro Woche in den großen Häusern nicht gespielt werden. Und das noch mit angemessen großen Orchester- respektive Bandbesetzungen!

Welche Herausforderungen gibt es für Sie bei diesem Musical?

Da es sich bei dieser Musik um eine Bandbesetzung handelt, so wie es auch im Kit-Kat-Club gewesen wäre, habe ich mich entschieden, selbst Klavier zu spielen. Somit habe ich die Doppelaufgabe des Pianisten und Dirigenten in Personalunion. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt hinzu, dass ich mit der Band hinter den Darstellern auf der Bühne sitzen werde, ich also oft keinen Blickkontakt zu ihnen haben werde.

Für die Filmversion von Cabaret wurden extra neue Songs komponiert. Werden die in die Festspiel-Produktion integriert?

Ja, wir spielen die drei Filmsongs Mein Herr, Money und Maybe this time.

Haben Sie eine Lieblingsmelodie bei Cabaret?

Mich begleitet schon seit Wochen die Melodie von Willkommen als ständiger Ohrwurm.

Worauf freuen Sie sich, was fürchten Sie bei den Aufführungen auf der Seebühne?

Ich freue mich zuallererst auf das Publikum, speziell nach dieser langen Zwangspause. Ich liebe es, Geschichten mit musikalischen Mitteln für ein Publikum zu erzählen - das hat mir sehr gefehlt.

Bleibt Musical ihr Berufsfeld oder denken Sie manchmal auch an andere Aufgaben im Musiktheater?

Es hat sich bei mir ergeben, dass ich sehr jung eine Dirigentenposition im Musical bekommen habe. Das ist mittlerweile 20 Jahre her und eine interessante Musicalproduktion folgte auf die andere. Prinzipiell bin ich immer offen für alles, aber die Anfragen für die nächsten Jahre kommen alle aus dem Musicalbereich.

Wer hat das Interesse am Musizieren bei Ihnen geweckt?

Gute Frage. In meiner Familie gibt es spannenderweise außer mir keinen Musiker. Wahrscheinlich Tonträger (damals Schallplatten und Kassetten), Radio und Fernsehen. Mein erster Musicalbesuch war mit 12 Jahren beim Starlight Express in Bochum. Kurz darauf folgte La Cage aux Falles bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen in der Produktion vom Theater des Westens, wo ich viele Jahre später auch als Musikalischer Leiter arbeiten durfte. Von da an war ich von Musicals fasziniert.

Mit welchen Berühmtheiten würden Sie gerne einmal auf der Bühne zusammenarbeiten?

Das wären hauptsächlich Komponisten: Stephen Sondheim, Stephen Schwartz und viele andere.

Interview: Hartmut Buhmann

 

 

KANDER & EBB: LIFE IS A CABARET

John Kander und Fred Ebb sind eigentlich drei Personen. Es gibt John Howard Kander, den gefühlvollen und romantischen Komponisten ... es gibt Fred Ebb, den extrovertierten und leicht zynischen Texter ... und es gibt „Kander'n'Ebb“, die in vier Jahrzehnten künstlerischer Symbiose unvergessliche Songs geschrieben haben.

Eine so lange Zusammenarbeit ist im Musikgeschäft, zumal am Broadway, eigentlich unvorstellbar - vielleicht liegt es ja an den extrem unterschiedlichen Charakteren. Von alleine haben sie sich jedenfalls nicht gefunden - ihr Verleger Tommy Valando arrangiert 1962 ein Treffen, bei dem dann gleich kreative Funken geflogen sein müssen. Schon die erste gemeinsame Ballade, „My Coloring Book“, wird noch im selben Jahr für einen Grammy Award nominiert und ist bis heute mehr als fünfzig Mal gecovert worden. Die Liste der Interpretinnen und Interpreten liest sich wie ein Who-is-Who des Show-Business': Sie reicht von Barbra Streisand und Julie London über Perry Corno und Cliff Richard, Dusty Springfield und Aretha Franklin bis zu Nana Mouskouri, Caterina Valente und Katja Ebstein, die 1969 die deutsche Version „Mein Bilderbuch“ veröffentlicht.

So unterschiedlich wie ihre Charaktere sind auch die Lebensläufe der beiden Kreativen. John Kander wird am 18. März 1927 in Kansas City in eine behütete Mittelklasse-Familie geboren und kommt schon früh mit Musik in Kontakt - seine Eltern nehmen den Jungen im Alter von neun Jahren mit in die Oper. Mit Mitte Zwanzig ist er bereits als Chorleiter und Dirigent am Broadway tätig und beginnt, nachdem er Tanzszenen für die Musicals Gypsy und Irma La Douce arrangiert hat, mit eigenen Kompositionen. 1962 stellt er sein erstes Musical vor - aber A Family Affair fällt durch.

Fred Ebb wird an einem 8. April geboren, irgendwann zwischen 1928 und 1936.1 Er wächst mit zwei Schwestern in einem eher einfachen Elternhaus in New York City auf; seine Musikkontakte muss er auf Schallplatten beschränken, immerhin sind aber auch Studioaufnahmen von Bühnenstücken dabei. Nach Abschluss der High School schlägt er sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durch; dann beginnt er an der New Yorker Universität ein Literaturstudium und schließt es an der Columbia Universität mit Erfolg ab. 1951 folgen erste kleinere Song- und Musicalarbeiten mit den Komponisten Phil Springer und Paul Klein - aber der Erfolg bleibt bescheiden.

Als wäre es eine mathematische Gleichung, wird aus zwei einzelnen bis dahin ziemlich erfolglosen Musik- bzw. Textkünstlern in der Kombination ein perfektes Gespann. Ihr erstes Musical, Golden Gate, schafft es zwar nicht auf die Bühne, der Broadway-Produzent Harold Prince erkennt jedoch ihre Qualität und beauftragt sie 1965 mit Flora, the Red Menace. Aber mit nur 87 Vorstellungen ist es ein ziemlicher Flop. Trotzdem gilt es als Meilenstein, denn eine 19-Jährige gibt ihr Bühnendebut und kann sogleich den Tony Award als „Beste Hauptdarstellerin“ erringen: Liza Minnelli.

Bereits die dritte gemeinsame Arbeit bringt Kander’n‘Ebb den Durchbruch: Cabaret wird ihr für alle Zeit erfolgreichstes Werk, mit 1.166 Broadway-Vorstellungen und acht Tony Awards alleine in der ersten Laufzeit. Und „Willkommen“, „(Life is a) Cabaret“, „If You Could See Her Through My Eyes“ oder „Tomorrow Belangs to Me“ begeistern auch heute noch.

Uraufgeführt wird Cabaret am 20. November 1966 im Broadhurst Theatre am New Yorker Broadway. Lotte Lenya2 spielt „Fräulein Schneider“, Joel Grey den „Emcee“; eine Rolle, die er später auch im Film übernehmen wird. Das Musical erringt 1967 sieben und bei der Wiederaufnahme 1998 vier Tony Awards, drei Drama Desk Awards 1998, einen Laurence Olivier Award 1994 und deren zwei im Jahr 2007. Die britische Erstaufführung erlebt das Musical am 28. Februar 1968 in London mit Judi Dench als Sally Bowles. Die deutschsprachige Premiere findet am 14. November 1970 im Theater an der Wien statt, erstmalig auf deutschem Boden wird Cabaret 1976 in Dresden und 1977 in Leipzig präsentiert. 1986 brilliert Ute Lemper als „französische“ Sally Bowles zunächst in Lyon, später in Paris, und 1987 schließlich bringt Helmut Baumann das Musical am Berliner Theater des Westens heraus - mit Helen Schneider als Sally und Hildegard Knef als Fräulein Schneider.

Bei der Verfilmung von Cabaret mit Liza Minnelli als Sally Bowles (1972) ist das Erfolgsgespann Kander’n‘Ebb wieder beteiligt; sie schreiben die Songs „Maybe this Time“, „Mein Herr“ und „Money Money“. Danach beginnt eine fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Kreativen mit der Tochter von Judy Garland und Vincente Minnelli: Die Shows Liza with a Z (1972), The Act (1977) und Minnelli on Minnelli (2001) entstehen. Und Liza Minnelli ist es auch, die als erste den größten Hit des Autorenduos interpretiert: den Titelsong des 1977 unter der Regie von Martin Scorsese entstandenen Films New York, New York. Frank Sinatra wird ihn bald darauf zu seiner Hymne machen.

Aus der Feder von Kander'n'Ebb fließen zwanzig Musicals, darunter Zorba (1968, vier Jahre zuvor mit Anthony Quinn verfilmt), Wo man of the Year (1981, mit Lauren Bacall) - ein Stoff, der 1942 mit Katherine Hepburn und Spencer Tracy erfolgreich in den Kinos lief-, und Kiss of the Spider Woman, das 1982 im Londoner West End Theater und 1983 am Broadway Premiere feiert. Was den kommerziellen Erfolg betrifft, kann neben Cabaret aber nur Chicago bestehen: 1975 am Broadway uraufgeführt, feiert es 1996 dortselbst ein phänomenales Revival und hält bis heute einen einsamen Rekord: Mit mehr als 7.500 Vorstellungen ist es das am längsten am Broadway gespielte amerikanische Musical.

Neben den Verfilmungen von Cabaret und Chicago und der Mitarbeit an New York, New York zeichnen Kander'n'Ebb 1975 auch zuständig für viele Songs des Film-Musicals Funny Lady, die Fortsetzung von Funny Girl (1968; Musik: Jule Styne, Text: Bob Merill). Auch hier spielen wieder Barbra Streisand und Omar Sharif die Hauptrollen.

Das Geheimnis ihrer Songs haben John Kander und Fred Ebb sehr unterschiedlich definiert - „Die angeblich typischen Kander & Ebb-Songs sind rein zufällig entstanden“ (Fred Ebb) und „Ich würde einen Kander & Ebb-Song nicht erkennen, selbst wenn er ins Zimmer käme und mir eine runterhauen würde“ (John Kander)3 - aber eigentlich ist es ganz einfach: Musik mit anspruchsvollen Harmonien und eingängigen Melodien kombiniert mit Texten, die aussagekräftig, aber trotzdem leicht verständlich sind. „Kander und Ebb verbinden Effekthascherei mit politischem Gewissen und machen aus den dreisten Geistern eine Art Moralapostel“, schreibt der Theaterkritiker David Richards 1996.4 Liza Minnelli drückt es noch einfacher aus: „Das Tollste an Kander und Ebb ist: Man singt ihre Lieder und fühlt sich gut dabei.“5 Nicht von ungefähr werden Kander und Ebb 1998 für ihre Beiträge zum Theater und zur Musik mit den Kennedy Center Honors ausgezeichnet.

Fred Ebb stirbt am 11. September 2004 in New York. John Kander, mittlerweile hochbetagt, komponiert immer noch.

Life is a Cabaret, old chum ...

 

 

CABARET- EIN GESAMTKUNSTWERK

Interview: Hartmut Buhmann

Vom Schauspiel bis zur Oper ist Tobias Materna keine Regiearbeit fremd. Diese theatralische Vielfalt prägt auch Cabaret" - für Materna ein Gesamtkunstwerk.

Herr Materna, Sie haben bisher vor allem Regie im Sprechtheater sowie für Oper und Operette geführt. Was reizt Sie jetzt am Musical?

Ein Musical bietet den Personen auf der Bühne neben Sprache und Mimik viel mehr Gestaltungsraum, ihre Emotionen auszudrücken. Sie können singen, sie können tanzen, so können sie noch mehr von ihrer Figur zeigen.

Wie halten Sie es mit dem unterhaltenden Musical-Charakter?

Entertainment ist wichtig und richtig. Eine gut gemachte Show ist einfach ein großer Genuss. Ich bin froh, dass ich hier bei den Festspielen mit Vanni Viscusi einen Partner habe, der das genauso sieht. Er choreografiert Shownummern und Tanzeinlagen so einfallsreich, dass Zusehen einfach eine Freude ist.

Musik, Tanz, Amüsement, persönliche Tragik, zeitgeschichtliche Abgründe - was dominiert für Sie in Cabaret?

Ich hoffe, dass in unserer Inszenierung keines dieser Themen die anderen überdeckt. Das Stück ist eine tolle Mischung aus Schauspiel, Show, dramatischen Momenten, mitreißender Musik, großartigen Songs a la Weil! und Brecht. Man kann Cabaret durchaus als Gesamtkunstwerk bezeichnen im Bereich der darstellenden Künste. Das Zusammenspiel des Autorenteams Kander und Ebb war kongenial.

Die Handlung geht fast hundert Jahre zurück. Welche Rolle spielen Bezüge zu Gesellschaft und Politik von heute in Ihrer Inszenierung?

Ich bin kein Freund von schulmeisterlichem Zeigefinger-Theater. Das Publikum wird bei Cabaret selber herausfinden, welche Parallelen es gibt zwischen heute und dem Deutschland zum Ende der Weimarer Republik. Wir versuchen zu zeigen, dass Ausgrenzung, Fremdenhass, gesellschaftliche Unzufriedenheit nicht Vergangenheit sind.

Wieviel Kopfzerbrechen hat Ihnen die Aufgabe bereitet, ein Musical mit vielen Szenen im intimen Rahmen von Club und Schlafzimmer stimmig auf einer großen Freilichtbühne zu inszenieren?

Damit haben wir uns im Regieteam tatsächlich eine ganze Weile beschäftigt. Unsere Lösung ist, das Ganze in einer Zirkusmanege spielen zu lassen, die ja ohne große Umbauten der Schauplatz ist für alles, was Unterhaltung ausmacht: hier dramatische Spannung, da befreiende Komik, überall glitzernde Illusionen, dazu eine Live-Band mitten beim Bühnengeschehen. Das gibt allem einen intimen Rahmen. Da passt der KitKat-Club gut hinein, aber wir haben auch den passenden Raum für die Begegnungen der Hauptpersonen.

Sehen Sie eine Gefahr darin, dass viele bei Cabaret an den perfekt geschnittenen Film mit Liza Minelli denken, hier aber eine Musical-Produktion mit Live-Performance und unberechenbarer Natur zu sehen bekommen?

Da sehe ich keine Gefahr. Ein Live-Erlebnis ist immer etwas Besonderes. Die Einzigartigkeit des Moments mit allen Sinnen wahrzunehmen, das unterscheidet Theater von Kinoproduktionen. Zu wissen, dass alles, was ich jetzt sehe, unmittelbar geschieht und so nicht wiederholbar ist, das macht doch den Reiz aus. Und hier macht die Natur die Aufführungen noch lebendiger.

Wie meistern Sie und das Ensemble das Proben und Spielen unter den alles erschwerenden Corona-Bedingungen?

Dank des großartigen Hygienekonzepts der Festspiele mit täglichen Tests fühlen wir uns hier recht sicher. Und die Freude, endlich wieder spielen zu dürfen, lässt alle im Ensemble die widrigen Umstände gern in Kauf nehmen. Wir machen wegen Corona keine Zensurversion, sondern das Stück wird so gespielt, wie es auch ohne Corona zu sehen gewesen wäre.

Ein Insider-Tipp bitte: Worauf sollte das Publikum bei den Vorstellungen besonders achten?

Auf das Huhn!

Wie bitte?

Ein Witz. Im Ernst: Die Zuschauer können sich auf geschmeidig schnelle Szenenübergänge freuen. Und es gibt auf der großen Bühne viele Details zu entdecken, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so auffallen.

So wie das Huhn? Genau.

 

DER MORGIGE TAG IST MEIN!

„Alles, was du brauchst, ist eine Stimme, damit sie hören, was du denkst.“ 1) Was wie die Agenda eines Umstürzlers klingt, ist eine Zeile aus dem Song „One Voice“, den der amerikanische Sänger Barry Manilow 1979 auf dem gleichnamigen Album veröffentlicht hat. Er beginnt mit einer einzelnen Stimme („Just one voice ... „) - und nach und nach kommen weitere Spuren mit der Stimme des Sängers hinzu, bis am Ende ein vielstimmiger Chor den ganzen Raum füllt. Und die Botschaft ist klar: Wenn aus einer Stimme viele werden, sind „die Hände[. .. ] verbunden und die Ängste[. .. ] gelöst“. 2) „One Voice“ ist aber alles andere als umstürzlerisch gemeint.

1) „All it takes is one voice singing so they hear what's on your mind“, aus: „One Voice“, Text: Barry Manilow, eigene Übersetzung

2) „Hands are joined and fears unlocked“, aus: „One Voice“, Text: Barry Manilow, eigene Übersetzung

Die Macht der Musik ist unfassbar. Sie geht direkt ins Gefühl, ohne einen Umweg über den Verstand zu nehmen. Nicht wir entscheiden, ob wir eine bestimmte Musik mögen ... es ist die Musik, die sich für uns entscheidet. Sie bringt uns zum Lachen, Träumen oder Weinen, sie animiert uns zu Höchstleistungen, sie macht uns sentimental oder glücklich. Und:

Sie sorgt für ein Gemeinschaftsgefühl. Jeder Chor ist der singende Beweis. Aber es geht nicht nur um das gemeinschaftliche Erleben von Musik. Es geht auch darum, Gemeinschaft zu erzeugen. Musik schafft ein Wir-Gefühl. Das lässt sich nicht nur trefflich nutzen, sondern ebenso trefflich ausnutzen.

Es gibt in Cabaret jenen einen kleinen Moment, der unmissverständlich die tiefgreifende Veränderung der Zeitströmung aufzeigt, die Deutschland unweigerlich in den dräuenden Nationalsozialismus führen wird. Im Kit-Kat-Club beginnt ein junger Kellner mit pathetischem Patriotismus ein Lied zu singen: „Der morgige Tag ist mein“. Erst singt nur er, dann folgt ein weiterer, dann noch einer, und dann fallen die Gäste und später auch die Instrumente ein. So entsteht eine Bewegung: „Doch sammelt Euch alle, ein Sturm ist nah. Der morgige Tag ist mein.“ Und spätestens, wenn es heißt: „O Vaterland, Vaterland, zeig uns den Weg, dein Gruß soll der Wegweiser sein“, ist das Ziel klar - zu deutlich sind die Assoziationen zu „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ 3)

3) Textzeile aus „Es zittern die morschen Knochen“; entstanden 1932 auf einer katholischen Wallfahrt, ab 1935 Kampflied der Deutschen Arbeitsfront, heute als NS-Propaganda verboten. Hans Baumann, der Texter, avancierte nach dem Krieg (zumeist unter Pseudonym) zu einem international renommierten Kinder- und Jugendbuchautor

Fred Ebb (Musik) und John Kander (Text) gelingt mit „Der morgige Tag ist mein“ der Spagat zwischen deutscher Volksliedkultur á la „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und einem politisch instrumentalisierten Marschlied. Wer das Lied zum ersten Mal hört, glaubt es zu kennen - und wer es bereits tatsächlich kennt, ertappt sich vielleicht sogar beim leisen Mitsummen. Menschen lassen sich mit Musik leichter verführen, als sie es für möglich halten.

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ 4) untermalte einst die Ankündigung Kaiser Wilhelms II., das deutsche Volk „herrlichen Zeiten entgegen“ zu führen. Singen, genauer: gemeinsames Singen, galt als vaterländisch. Wohin das führt, konnte man 1918 sehen. Und richtig: Fast über Nacht änderte sich der Musikgeschmack. In der Weimarer Republik dominierten Tagesschlager mit wenig sinnhaften bis dadaistischen Texten, aus Übersee übernommenes Liedgut sowie Jazz und Swing die Tanzböden beim Fünf-Uhr-Tee in den Hotels und Schwoof in den Kaschemmen.

4) Erste Zeile von „Die Wacht am Rhein“, Text: Max Schneckenburger (1840), Musik: Carl Wilhelm (1854); ab 1871 inoffizielle deutsche Nationalhymne neben „Heil dir im Siegerkranz“

Anfang der dreißiger Jahre beginnt die musikalische Restauration; im III. Reich schließlich überwacht die Reichsmusikkammer das Musikleben. Schon 1932 hatte Richard Eichenauer 5) in seinem Buch Musik und Rasse behauptet, dass Volkslieder „Kraftquellen nordischen Musikgeistes“ seien und damit im Handumdrehen ein ganzes Genre arisiert. „Die Volksmusik verkam zum Propagandainstrument, es war kein Leben mehr in ihr“, schreibt Hellmuth Vensky in der „Zeit“. Nach Auffassung des NS-Regimes gehören in die Volkskunst nur klare Dur- oder Moll-Akkorde und eingängige Melodien. 6)

5) Richard Eichenauer (* 24.02.1893, t 26.06.1956). Studienrat, Gesangslehrer und Musikschriftsteller. Von 1932 bis 1935 im Rasse- und Siedlungshauptamt der 55 tätig, später Leiter der Bauernhochschule in Goslar.

6) Hellmuth Vensky: „Herzilein, Du darfst ruhig traurig sein“, in: „Die Zeit“, 10. März 2011

Das macht es Fred Ebb und John Kander leicht, bei „Der morgige Tag ist mein“ den richtigen Ton zu treffen - ohne ihre Leistung schmälern zu wollen. Ganz im Gegenteil: In einem solch engen Rahmen etwas Neues zu erschaffen, das so klingt, als sei es schon immer dagewesen, ist Beweis für große Kunstfertigkeit. Die Darstellung im Film tut ihr Übriges: Wird das Lied im Musical im Kit-Kat-Club bzw. auf der Verlobungsfeier von Fräulein Schneider - also in eher kleinem Rahmen - gesungen, wird es im Film im Biergarten von einem blonden Hitlerjungen angestimmt und wächst zu einem großen Chor. Das ist durchaus als kleine Reminiszenz an die Geschichte zu interpretieren: Auch das III. Reich startete einst in einem Bierlokal; es nahm seinen ideologischen Anfang bekanntlich im Münchner Bürgerbräukeller …

Da die Deutschen bei der Verfilmung 1971 zurückhaltend mit Auskünften über die Vergangenheit ihres Landes waren, besuchte Regisseur Bob Fosse gemeinsam mit Liza Minnelli etliche deutsche Regionen, darunter auch die Hamburger Reeperbahn mit ihren eindeutigen Unterhaltungsangeboten; in Bayern erfuhren sie von der Existenz von Neonazi-Vereinigungen. Die Gegenüberstellung von freizügiger Sexualität und offenem Faschismus in ein und demselben Land erschreckte und irritierte sie, zeigte aber auch die darin enthaltene Verlockung: Schließlich ist das der Kern der Cabaret-Thematik. 7)

7) Kevin Boyd Grubb, Razzle Dazzle: The Life and Work of Bob Foasse, St Martins Press, New York, 1989. Gefunden auf http://www.sensesofcinema.com /2000/cteq/cabaret/1t2.

Wirklich erstaunlich allerdings ist die Realitätsverweigerung am extrem rechten Rand: In den Soer und 9oer Jahren veröffentlichten diverse rechte Musikgruppen ihre Versionen von „Der morgige Tag ist mein“ bzw. „Tomorrow belongs to me“ und spielten es unter johlendem Beifall ihrer Klientel auf Konzerten. Man darf getrost davon ausgehen, dass keiner der Beteiligten auch nur die leiseste Ahnung hatte, dass das angebliche Kampflied des Faschismus von jüdischen Songschreibern aus der Taufe gehoben worden war.

Die deutsche Übersetzung aller Songs aus Cabaret stammt übrigens auch von einem jüdischen Künstler: Robert Gilbert, den die Musikwelt als Textdichter von Schlagern wie „Durch Berlin fließt immer noch die Spree“ (1925). „Das ist die Liebe der Matrosen“ und „Das gibt's nur einmal“ (beide 1931) oder als Texter von Songs für „Im weißen Rössl“ und „Die Drei von der Tankstelle“ (beide 1930) kennt, musste 1933 aus Deutschland emigrieren. Nach dem Krieg schuf er die deutschen Fassungen von zwanzig Musicals, darunter Hits wie My Fair Lady, Hello, Dolly'. Oklahoma oder eben auch Cabaret.

Matthias Gerschwitz

 

GROSSES KINO IM EUTINER SCHLOSS

Als Leonid lljitsch Breschnew, Generalsekretär der sowjetischen Staatspartei KPdSU, im Mai 1973 erstmals die Bundesrepublik Deutschland besuchte, nächtigte er im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg im rheinischen Siebengebirge. Tags darauf titelte die größte Boulevard-Zeitung des Landes bewusst missverständlich: „Breschnew schläft im Bett der Queen“ - dabei hatte die englische Königin schon acht Jahre vorher dort residiert. Eine entsprechende Schlagzeile blieb allerdings aus, als sich die amerikanische Schauspielerin Liza Minnelli in einem Bett wälzte, das der Überlieferung nach um 1760 für den preußischen König Friedrich der Große angefertigt worden war. Der „Alte Fritz“ hat darin aber nie geschlafen.

Das Bett, um das es geht, ist das Paradebett im Eutiner Schloss, der Sommerresidenz der Herzöge von Oldenburg, die dem wohlhabenden, weltmännischen Maximilian von Heune (Helmut Griem) in der Cabaret-Verfilmung von Bob Fosse als Landsitz dient. Das Bett spielt eine durchaus zentrale Rolle, denn der Adlige verführt darin nicht nur Sally Bowles (Liza Minnelli), sondern auch ihren Freund Brian Roberts (Michael York). Im Musical fehlt die Rolle des Maximilian komplett; sie ähnelt allerdings derjenigen des „reichen Amerikaners“ (live Mortimer aus dem Theaterstück I Am a Camera, auf dem das Bühnenmusical basiert.

Aber nicht nur Eutin spielt Berlin. Als „Berliner Hauptbahnhof“, den es in der Hauptstadt vor dem Krieg nie gegeben hat, dient der Lübecker Hauptbahnhof; er war 1967 extra für den Staatsbesuch des persischen Schahs Reza Pahlavi restauriert worden. Der Kit-Kat-Club, in dem Joel Grey uneingeschränkt als Emcee (Master of Ceremony) herrscht, wurde auf dem Gelände der Bavaria Film in Grünwald bei München nachgebaut. Berlin als eigentlicher Ort der Handlung muss sich, abgesehen von einigen Aufnahmen in den Tempelhofer Studios, im wesentlichen auf Außendrehorte beschränken:

Das repräsentative Wohnhaus von Natalia Landauer 1) (Marisa Berenson) steht im vornehmen Bezirk Dahlem, gedreht wurde auch in der Nähe des Flughafens Tempelhof. Und als Sally Brian ermutigt, alle Hemmungen fallen zu lassen und sich gemeinsam mit ihr mal so richtig die Seele aus dem Leib zu schreien, tun sie das in der Charlottenburger Bleibtreustraße unter der Brücke am Savignyplatz in dem Moment, als obendrüber die S-Bahn entlangfahrt. 2)

1) „Natalia Landauer“ ist eine Figur aus dem Bühnenstück „I am a Camera“, die erst in der Verfilmung wieder auftaucht. Sie ist die Tochter der Figur „Bernhard Landauer“ aus dem Roman „Leb wohl, Berlin“.

2) Drehorte in Berlin: https://www.shotinberlin.de/DE/karte/film/1357/

Wer den Film zu kennen glaubt, wird im Musical viel Neues entdecken. Auch wenn sich alle Versionen auf Christopher Isherwoods Berlin Stories, seine Bücher über den Untergang der Weimarer Republik, zurückführen lassen, bieten Theaterstück, Musical und Film völlig unterschiedliche Aspekte desselben Stoffs; Isherwood hat es verstanden, das Leben im damaligen Berlin sehr genau zu beobachten und ebenso detailreich zu schildern. Spielt z. B. im Musical die Zimmerwirtin Fräulein Schneider die zentrale Rolle, steht im Film die Beziehung zwischen den Figuren Sally Bowles und Brian Roberts im Vordergrund. Letzterer taucht zwar weder im Theaterstück noch im Musical auf - ist aber auch als Selbstdarstellung des Autors zu verstehen.

Ein gravierender Unterschied zwischen der Bühnen- und der Filmversion fällt aber mittlerweile oft nicht mehr ins Gewicht: die Musik. Aus dem Musical schafften es zwar nur wenige Titel in den Film, aber da John Kander und Fred Ebb auch hier für die Musik verantwortlich zeichnen, fügen sich die neuen Songs ohne Bruch ein. Tatsächlich sind einige von ihnen zu Evergreens geworden, die aufgrund ihrer Bekanntheit (und sicherlich auch der Erwartungshaltung des Publikums) häufig in die Neu-Inszenierung des Musicals übernommen werden, so wie auch in der aktuellen Eutiner Präsentation.

Den Preisregen des Musicals konnte der Film wiederholen: 1973 wurden ihm acht Oscars®, drei Golden G!obes und sieben BAFTA Awards (Britischer Filmpreis) zugedacht. Zudem wurde er 1995 ins nationale Filmverzeichnis der amerikanischen Kongressbibliothek aufgenommen. Und das American Film Institute setzte den Titelsong Cabaret im Jahr 2004 auf Platz 18 der besten amerikanischen Filmsongs, den Film selbst zwei Jahre später auf Platz s der besten amerikanischen Film-Musicals.

Wenn Sie heute auf der Zuschauertribüne der Eutiner Seebühne Platz genommen haben, um sich von einem kunst- und kulturgeschichtlichen Meisterwerk begeistern zu lassen, dann denken Sie nicht so sehr an den Film, sondern genießen Sie das Musical, ohne das es den Film nie gegeben hätte. Und wenn Sie den Abend zuhause beschließen, stellen Sie sich für einen Moment das Paradebett im Eutiner Schloss als Nachtlager vor - und genießen Sie den Moment, wenn leise, ganz leise, ein Lied durch den Raum weht:

„Willkommen ... bienvenue ... welcome ... "

Matthias Gerschwitz

 

Informationen

Musik: John Kander
Gesangstexte: Fred Ebb
Buch: Joe Masteroff

Nach dem Stück „Ich bin eine Kamera“ von John van Druten, Erzählungen von Christopher Isherwood. Deutsch von Robert Gilbert, in der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker.

Musikalische Leitung: Christoph Bönecker
Inszenierung: Tobias Materna
Choreographie [&] Co-Regie: Vanni Viscusi

Kostümbild: Martina Feldmann
Bühnenbild: Jörg Brombacher
Licht: Rolf Essers
Produktionsleitung: Anna-Luise Hoffmann
Regieassistenz/Inspizienz: Corina von Wedel-Gerlach
Ton: Christian Klingenberg
Maske: Marlene Girolla-Krause

Orchester: Kammerphilharmonie Lübeck (KaPhiL!)

Hinweis: Die historischen Texte und Abbildungen dieser Rückschau (bis in die 1950er Jahre) stammen aus den jeweiligen Programmheften und Fotosammlungen und spiegeln ihre Zeit. Sie könnten Begriffe und Darstellungen enthalten, die heute als diskriminierend oder unangemessen gelten. Die Eutiner Festspiele distanzieren sich daher ausdrücklich von solchen Inhalten. Auch die Erwähnung teils umstrittener Persönlichkeiten erfolgt ausschließlich im historischen Zusammenhang. Der digitale Rückblick soll Geschichte transparent machen und zur kritischen Auseinandersetzung mit Sprache, Haltung und Zeitgeschehen anregen. Wo erforderlich, ergänzen wir erläuternde Hinweise. Hinweise auf sachliche Fehler oder notwendige Kontexte nehmen wir gerne unter entgegen.