Tanz auf dem Vulkan, Cabaret« in packender Freilicht-Inszenierung
»Willkommen! Bienvenue! Welcome!« Es braucht nur ein paar Takte und die Stimmung steigt in Erwartung auf »Two ladies«, If you could see her through my eyes«, »Heirat«, »Tomorrow belongs to me«. Nach pandemiebedingter Zwangspause im vergangenen Jahr starten die tra-ditionsreichen Festspiele auf der Freilichtbühne im schleswig-holsteinischen Städtchen Eutin mit dem 1966 uraufgeführten Musical in ihre 70. Saison. Und ja, die In-szenierung von Tobias Materna bietet beste Unterhal-tung, die Regie wagt sich durchaus auch an den Rand des Klamauks. Doch immer im Blick bleibt der Kern des Stücks: Schicksale im sozial und politisch zerrissenen Berlin der ausgehenden 1920er Jahre.
Die Geschichte des amerikanischen Schriftstellers CliffordBradshaw,deraufSuchenachMaterialfüreinBuch ins wilde Berlin reist, gehört zum kulturellen Kanon und ist mit ihrem Fokus auf Diversität, Individua-lität, auf Freiheitssuche hier und Unterdrückung dort zugleich hochaktuell. Machte schon das auf dem Schau-spiel »I Am a Camera« (John van Druten, 1951) und den autobiografischen Berlin-Romanen von ChristopherI sherwood aus den 1930er Jahren basierende Musical mit der Musik von John Kander, den Liedtexten von Fred Ebb und dem Buch von Joe Masteroff Furore, soverhalfLizaMinnelliderSallyBowlesinderVerfilmungvon 1972 endgültig zu Weltruhm. Jasmin Eberl, die Sally in Eutin, zwingt mit ihrer Aufmachung die Erinnerung an die Minnelli herbei. Und nicht nur das ist selbstbe-wusst gesetztes Zitat. Auch die Nähe zum TV-Kriminal-Event »Babylon Berlin« ist spürbar. »Alle haben diese krankhafte Sucht, sich zu amüsieren«, heißt es im Stück. Jörg Brombacher kreierte dafür eine Bühne, auf der es blinkt und schillert. Drei hoch gebaute, runde Gehäuse beherrschen das Bild, im mittleren (das rechte und das linke sind geheimnisvoll verhangene Orte meist sündi-gen Geschehens) agieren der an internationalen Musi-cal-Erfahrungen reiche Christoph Bönecker und seine elf Mann starke, aus Musikern der Kammerphilharmo-nie Lübeck »KaPhiL!« bestehende Band.
Wer auf solides Niveau in der Provinz gefasst ist, sieht sich qualitativ geradezu überrumpelt. Die Solisten sind prächtig bei Stimme und bei Körper. Jasmin Eberl über-zeugt als kapriziöse Sally Bowles, Julian Culemann als charmant naiver Clifford Bradshaw; Susanna Panzerund Tilman Madaus rühren als ein in Liebesdingen herzergreifend unerfahrenes ältliches Paar, Patricia Hodell und Mario Zuber demonstrieren schaurig glaub-würdig den Geist der aufziehenden »neuen« Zeit. Den schillerndsten und variantenreichsten Part hat indes-sen ein grandioser Oliver Urbanski als zynisch-windiger Conférencier inne.
Eigentlich weiß man ja, dass es angesichts sich rasch vermehrender braun gekleideter Gestalten kein glückliches Ende nehmen kann, und doch kommt der emotionale Knall nahezu unvermittelt: Das Licht erlischt, die Nazis sind da.