Auf nach Eutin zu dieser Freischütz-Inszenierung
Die Freischütz-Inszenierung aus Kritiker-Sicht: Ein Sommernachtstraum am Eutiner See
Charlie Chaplins weite Hosen waren grundsätzlich zu lang. Die Beinkleider des Herrenchores der Eutiner Festspiele hingegen sind exakt um jene wenigen Zentimeter zu kurz, damit man wahrnimmt, dass sie unter ihren schwarzen Anzügen rote Socken tragen. Auf ihren Köpfen sitzen ganz klassisch schwarze Melonen.
Zudem sind die knallweiß geschminkten Gesichter wichtiges Merkmal der Uniformität der singenden Masse. Da könnte Chaplins Komikerkollege Buster Keaton Pate für das Maskenbild gestanden habe. Die Damen des Chores wiederum tragen zu ihren schwarzen Faltenröcken rote Handschuhe und führen Regenschirme mit sich.
Den wetterbedingten Anlass gab es zur Premiere von Der Freischütz indes mitnichten: Der Abend glich einem Sommernachtstraum am Eutiner See, der so ruhig und glatt hinter der imposanten neuen Zuschauertribüne lag, als wollte er sich demütig vor der Musik verbeugen, die hier seit 1951 unter freiem Himmel erklingt und nun – nach der über 17 Millionen Euro kostenden Generalsanierung und Erweiterung von Tribüne, Orchestergraben, Bühne und Probengebäuden – eine der atmosphärisch stärksten Spielstätten Deutschlands für Open Air-Opern (und nun ergänzend auch Musicals) erhalten hat.
Stadt (11 Millionen Euro), Bund (5,5 Millionen Euro) und Land Schleswig-Holstein (300.000 Euro) haben gemeinsam in die Zukunft der Eutiner Festspiele investiert. Ein starkes Bekenntnis.
Glyndebourne-Flair des norddeutschen Understatement
Denn diese Zukunft dürfte nach manch schwierigen Jahren, die den Festspielen 2010 sogar eine Insolvenz einbrachte, eine rosige sein. Das Publikum kehrt in Strömen zurück, denn die Mischung des Programms zwischen Anspruchsvollem und Populärem lockt auch neue Zielgruppen an, die das Rundum-Wohlfühlpaket der Festspiele zu schätzen wissen.
Stimmungsvoller kann man einen abendlichen Aperitif kaum genießen als an der Bar direkt am See, die vom Hamburger Architekturbüro Moths direkt unterhalb der Zuschauertribüne enorm geschickt positioniert und in das Gesamtkonzept eingegliedert wurde. Parallel wurde die Festspielscheune oberhalb der Bühne mit Verwaltungs- und Probentrakten und Kartenkasse mit weiterer Gastronomie verknüpft und in die Parklandschaft integriert, so dass schon der Weg vom Eutiner Schloss über die Lindenallee in den Festspielbezirk der Einstimmung dient: Ein wenig Glyndebourne-Flair des norddeutschen Understatement herrscht nun hier in der Holsteinischen Schweiz. Tradition, Gegenwart und Zukunft verbinden sich hoch attraktiv.
Wenn die Last der Tradition zur Lust an der Innovation wird
Daran hat die Inszenierung von Anthony Pilavachi entscheidenden Anteil. Die Erwartungen an den Regisseur, der einst mit seinem Lübecker Wagner-Zyklus für Furore sorgte, waren durchaus riesig. Denn die romantische Oper des berühmtesten Sohns der Stadt bildet seit 1951 den Markenkern der Eutiner Festspiele.
Schließlich wurde Carl Maria von Weber hier 1786 geboren. Sein 125. Todestag war einst Anlass für die Gründung der Festspiele als genuin bürgerschaftliches Engagement.
Der Freischütz stand in ganzen 43 Spielzeiten auf dem Programm. Da gilt es für das Regieteam, die Last der Tradition zur Lust an der Innovation zu verwandeln. Charlie Chaplins nunmehr kollektiv zu kurze Hosen stehen sinnbildlich für den klugen Humor, den Anthony Pilavachi mit Cordula Stummeyer (Kostüme) und Jörg Brombacher (Bühne) für ihre Inszenierung wagten.
Der Chor als beschränkte Masse, in die alle kleineren Partien (Oberförster Kuno und Fürst Ottokar, gottesgleicher Eremit wie treffsicherer, aber tumber Bauer Kilian) als Typen mit entsprechend weißgeschminkten Gesichtern eingemeindet werden, verkörpert die sicherlich einst auch in Eutin anzutreffende kleinbürgerliche Spießigkeit, die klar zu unterscheiden weiß, wer und was denn nun gut und böse ist. Der Regisseur hat dabei den Mut zur Groteske und es doch nie nötig, seine Figuren zu desavouieren: Er geht an die Wurzeln des Werks. Individuen sind darin für ihn jedenfalls nur die beiden Jägerburschen Max und Kaspar, die als traumatisierte junge Männer gerade aus dem Dreißigjährigen Krieg zurückkehren, und die beiden Freundinnen Agathe und Ännchen, die in all der gesellschaftlichen wie familiären Enge und geforderten Regelkonformität ihre eigenen Wege als Frauen gehen möchten.
Die Bühne der Natur
Agathes Favorit Max, der aus dem Krieg sexuelle Probleme in die Heimat mitgebracht hat, leidet an den Versagensängsten, der Spott des Chores foltert ihn brutal. Das fiese Schild mit der Aufschrift „Schlappschwanz“ peinigt ihn, er trägt es lange schwer durchs Stück. Was es mit dem unseligen Probeschuss auf sich hat, der Voraussetzung einer Liebesbeziehung zu Agathe ist, zeigt Pilavachi durchaus deutlich, wenn der Chor geradewegs auf die gespreizten Beine von drei sexy Bunnies zielt. Weibliches Kleinwild und das Großwild der Jäger im Wald folgen klar demselben Beuteschema.
Doch Max verschießt. Sein Freundfeind Kaspar verspricht Abhilfe in Form jener Freikugeln, die es in der düsteren Wolfsschlucht zu gießen gilt. Jetzt kommt die grandiose, durch nichts zu ersetzende Bühne der Natur ins Spiel: Aus dem Wald oberhalb des erweiterten ansteigenden Bühnenhalbrunds dringt Theaternebel, Zombies entsteigen all den hier verbliebenen Särgen: ein düsterer grauer Hexensabbat, zu dem Kaspar in einer ollen Tonne seine Freikugeln nach altem Rezept und Zauberspruch gießt.
Max schleppt sein fieses Schild auch hierher. Ein kleines Mädchen in weißem Kleidchen als kindliche Agathe legt nahe, dass die erwachsene Agathe die böse Szene als Alptraum imaginiert.
Bregenz und Eutin im Fernduell
Soll man das verblüffende Ende wirklich verraten? Wenige Tage zuvor bei den Bregenzer Festspielen war es von Philipp Stölzl doppelt als happy und böse gezeigt worden. Anthony Pilavachi treibt die Dialektik weiter. Wie Evchen und Stolzing in Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ wollen Max und Agathe dem ganzen Schlamassel entfliehen und dieses unselige Dorf hinter sich lassen. Wie wäre das mit einer Welt jenseits von Gut und Böse?
Samiel als Inkarnation des Bösen wertet der Regisseur entschieden auf, lässt ihn durchs gesamte Stück laufen, das Geschehen kommentieren und lenken. Mit dieser Idee kommen sich Bregenz und Eutin sogar nahe. Pilavachi fragt indes nach der Dualität von Gut und Böse, nach deren Untrennbarkeit, nach dem Spiegel von Göttlichem und Teuflischem, das in allem Menschlichen gleichermaßen wohnt. Dass der Samiel in Eutin mal eine teuflische Frau und mit Nina Maria Zorn schillernd androgyn besetzt ist, gehört zu den vielen trefflichen Pointen der Inszenierung.
Ganz starke junge Besetzung
Die Besetzung mit großteils jüngeren und vielfach in ihren Rollen debütierenden Sängern hat ein Format, das sich selbst vor Bregenz nicht zu verstecken braucht. Ann-Kathrin Niemczyk ist mit stupend silbrigem Nobelsopran eine herrliche Agathe, Océane Paredes als Ännchen ihr quirlig freches Pendant, Marius Pallesen ein Max mit fantastisch frischem, jugendlich hellem Heldentenor, Thomas Weinhappel ein hier mal nicht bass-schwarzer, sondern deklamationsdämonischer Kaspar mit einigem Extra-Eros des Bösewichts.
Dirigent Leslie Suganandarajah inspirierte die Kammerphilharmonie Lübeck dazu, ihren Carl Maria von Weber mit dem luziden Klangbild eines Felix Mendelssohn aufzufächern. Die schönste Botschaft zum Schluss: Naturtheater, Volkstheater und Regietheater verbinden sich hier so verblüffend harmonisch, ja dreieinig miteinander, dass man ausrufen möchte: „Auf nach Eutin!“