Von der Sucht, sich zu amüsieren
Sie spielen wieder, und wie! Nach einem Jahr pandemiebedingter Zwangspause sind die Eutiner Festspiele mit dem Musical „Cabaret“ in ihre 70. Saison gestartet. Mit Mut zum Witz und der Traute zum Ernst inszeniert Tobias Materna die Geschichte aus dem haltlosen Berlin am Ende der 1920er-Jahre. Das hochkarätige musikalische Geschehen leitet Christoph Bönecker.
Der Countdown läuft, die deutsche Katastrophe liegt in der Luft, als der junge amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw (Julian Culemann) in den Hotspot Berlin reist, um Material für ein Buch zu sammeln. Gelockt vom Devisenschmuggler Ernst, gerät er in den halbseidig schillernden Kit-Kat-Club, wo ein windiger Conférencier (Oliver Urbanski) mit Revuekunst und den – seinerzeit strafbewährten bzw. geächteten – Varianten sexueller Ausrichtungen und Begehrlichkeiten jongliert, und wo er auf das überlebenshungrige Showgirl Sally Bowles trifft.
Man kennt die Geschichte. Machte schon das Musical aus dem Jahr 1966 mit der Musik von John Kander, den Liedtexten von Fred Ebb und dem Buch von Joe Masteroff, das wiederum auf dem Schauspiel „ I Am a Camera“ (John Van Druten, 1951) und den autobiografischen Berlin-Romanen von Christopher Isherwood („Mr. Norris steigt um“, „Leb wohl, Berlin“) aus den 1930er-Jahren basiert, Furore, so brachte Liza Minnelli die Geschichte der Sally Bowles in der Verfilmung von 1972 endgültig zu Weltruhm – und sie prägte die Rolle.
Die Bilder sind im Kopf. Tobias Materna geht souverän damit um und schreibt gerade damit in eigener Handschrift. Wie einst die Minnelli hat auch seine kapriziöse Sally (Jasmin Eberl) dunkle Haare, riesig geschminkte Augen und bringt einen Bowler als keckes Accessoire ins Spiel. Die Inszenierung touchiert zugleich die „Cabaret“-Verfilmungsgeschichte: Das Doppelbett, in dem sich die Beziehung zwischen Sally und Clifford ihrem Ende nähert, zitiert das Paradebett im Eutiner Schloss, das im Film Brennpunkt von Verführungen wird. Materna weckt auch eine Nähe zum TV-Event „Babylon Berlin“, denn: „Alle haben diese krankhafte Sucht, sich zu amüsieren.“
Im besten Sinne schwappt die Lust auf gute Unterhaltung ins Publikum über. Die Künstlerinnen und Künstler sind hervorragend bei Stimme – und bei Körper, denn es gibt Tanz, Ballett und Akrobatik vom Feinsten zu sehen. Im wahrsten Wortsinn über dem Geschehen, weil im Rund über der Bühne platziert, schwebt die zwölf Mann starke, aus Musikern der Kammerphilharmonie Lübeck „KaPhiL!“ bestehende Band, die es dank einem sensibel agierenden Christoph Bönecker fertigbringt, trotzdem mitten im Geschehen zu sein. „Willkommen“, „Two Ladies“, „If you could see her through my eyes“, „Tomorrow belongs to me“ – ein Hit reiht sich an den nächsten, auch „Maybe this time“, „Mein Herr“ und „Money, Money“, die Nummern, die Kander und Ebb erst für den Film schrieben, sind als unverzichtbar erkannt und eingebaut.
Den stärksten Moment serviert die Inszenierung im schrecklichsten Moment. Die Nationalsozialisten ersticken das wilde, variantenreiche, unkontrollierbare Leben im Keim. Das Licht erlischt, das begeisterte Premierenpublikum applaudiert stehend. Ein großer Abend.