So ist das Leben, Puccinis Meisterwerk »La bohème«
Das Versprechen ist eingehalten, auf der Freilichtbühne am Großen Eutiner See machen junge Stimmen Puccinis Meisterwerk »LaBbohème« zu einem sehr besonderen Opernabend. Herausragend dabei ist Alyona Rostovskaya, die den Part der Mimì wie eine zweite Haut überstreift und ihm zugleich eine eigene, durchaus moderne Note verleiht. Und dies vorweg: Folwills Inszenierung fällt nicht durch.
Paris, 1830, eiskalter Winter, frierende Künstler. So sieht es das Libretto nach dem Roman »Scènes de la vie de bohème« von Henri Murger vor. Dies im Sommer auf eine von Laubbäumen umstandene Bühne zu bringen, ist nicht einfach. Doch »La bohème«, als Alternative gewählt, weil der ursprünglich geplante personalintensive Freischütz« mit den Hygienemaßnahmen unvereinbar gewesen wäre, zündet. Folwill und sein Team spielen mit der Phantasie des Publikums, das mit zunehmender Dunkelheit die Kälte vom See her anfliegt; eine Weihnachtsfeier ist in ein brodelndes Kostümfest verwandelt und außerdem weiß gerade jetzt ohnehin jeder um die Sorge vor Krankheit. Da passt es, wenn Rodolfo das eiskalte Händchen Mimìs wärmen will.
Doch ohnehin sind die Herzen da schon an die Sopranistin verloren: eine zarte Frau, die ihre Stimme mit sensibler Ausdruckskraft exakt zu lenken vermag, mit starker Bühnen-präsenz, zurückhaltend, ohne ängstlich zu sein, höflich, aber nicht devot. Ein Erlebnis.
Ein Erlebnis ist auch die komplette Produktion, die – obwohl Ergebnis pandemiebedingter Kompromisse und Reduzierungen – eben nicht den Eindruck einer Verlegen-heitslösung macht. Im Gegenteil, man muss sich schon auf die Besonderheiten umstände-halber konzentrieren. Da wäre etwa die um mehr als die Hälfte reduzierte Kammerphilharmonie Lübeck »KaPhil!«, für die der musikalische Leiter Hilary Griffiths eine neue, tragende Fassung geschrieben hat, oder der von 60 auf 20 Sängerinnen und Sänger reduzierte Chor, dessen Mitglieder Folwill individualisiert und damit eine andere Form von »Masse« schafft.
Diese »Bohème« zielt aufs Herz, aber versinkt nicht in verzuckerten Zwischenwelten. Während der Dichter Rodolfo (Aleksandr Nesterenko), der Maler Marcello (Miljenko Turk), der Philosoph Colline (Sargis Bazhbeuk-Melikyan) und der Musiker Schaunard (Manos Kia) versuchen, zwar hungernd und frierend, aber übermütig, ihre geistige Größe zum Blühen zu bringen, kündigt sich Mimìs Tod an, feiert deren Freundin Musetta (Ines Lex) Liebe, Lust und Leidenschaft. So ist das Leben. Gestorben wird in einer großen Oper, wenn der Gesang am bewegendsten ist, und das Eutiner Finale packt auch nüchterne Betrachter am Wickel der Emotionen. Zwei Stunden haben diese Bohémiens ihr Publikum in eine andere Welt entführt. »Willkommen zurück in der Realität«, konstatiert am Ende ein Besucher. Doch fremd-artig war diese andere Welt nicht. Dafür gibt es Standing Ovations.