Musical „Cabaret“ bei den Eutiner Festspielen: Hits, die unter die Haut gehen
Eutin. Sally Bowles ist ein wildes Fohlen, ungezügelt, von deren scheinbar unbeschwertem Lebenswandel im Babylon Berlin der Roaring Twenties man ihrer Mama lieber nichts Näheres berichten sollte. Sie zieht Probleme und problematische Typen an wie das Licht die Motten. In London musste das Show-Girl schon ihre tödlich tief gesunkene Freundin zurücklassen. In Berlin schlittert die Unbedarfte mitten hinein in die Misere der Weimarer Republik, wenn sich in ihrem zwielichtigen Umfeld bedrohlich die Spannungen zwischen Wirtschaftskrise und Lotterleben, erstarkendem Nationalsozialismus und jüdischer Minderheit, Moral und Macht aufschaukeln.
Cabaret: Musical-Kammerspiel auf der großen Freilichtbühne
Der Komponist John Kander und sein Texter Fred Ebb haben aus der englischen Autobiographie-Vorlage im Musical
Cabaret ein kleines Wunderwerk gebastelt, das mit seinen frechen Ohrwürmern angesichts des gruseligen politischen Hintergrunds nicht nur in der berühmten Verfilmung mit Liza Minelli unter die Haut kriecht. Das Stück ist eigentlich ein psychologisches Kammerspiel, das ausschließlich in der verrucht verschwitzten Enge des Kit-Kat-Clubs oder in der spießigen Wohnpension von Fräulein Schneider schwelt. Lässt sich das unter blauem Himmel und grünen Bäumen auf eine maximal breite Freilichtbühne übertragen?
Eutiner Festspiele: Cabaret ohne aufgepustete Show
Sehr wohl. Denn der Regisseur Tobias Materna und sein Team (mit Bühnenbildner Jörg Brombach und Kostümbildnerin Martina Feldmann) versuchen gar nicht erst, da irgendetwas zur ganz großen Show aufzupusten. Der Rotlichtclub kommt auf zwei Ebenen mit einer Art Zirkusrund und wenigen Girls und Boys aus. Fürs Pensionszimmer reicht ein Bett, das aus einer Wand gerollt wird.
Profilierte Sängerauswahl und Personenführung
Entscheidend für die große Wirkung ist dagegen die profilierte Auswahl und Personenführung der Protagonisten. Allen voran begeistert die Österreicherin Jasmin Eberl als Sally, die mit rotzfrechem Unterton zugleich berührende Verletzlichkeit ausstrahlt und Hits gekonnt serviert. Kit-Kat-Conférencier Oliver Urbanski punktet weniger mit grotesk übersteigerter Dämonie als vielmehr mit gefährlich schönem Gesang und der Ausstrahlung eines traurigen Clowns. Sallys neuen Lover, den mittellosen amerikanischen Schriftsteller Cli!ord Bradshaw, gibt Julian Culemann als staunend unbedarften Softie, der dem schneidig aalglatten Nazi Ernst Ludwig von Darsteller Mario Zuber auf den Leim geht.
Cabaret: Schwelender Antisemitismus berührend am Pranger
Dessen Antisemitismus zerknickt das spätblühende, zarte Glückspflänzchen, das zwischen dem jüdischen Obsthändler Schultz und seiner Vermieterin Schneider keimt. Tilman Madaus macht aus dem rechtscha!enen Kleinbürger einen überaus liebenswert leisen Werber und Susanna Panzner gibt auch stimmlich die vom Single-Leben gegerbte Persönlichkeit mit harter Schale und weichem Kern. Da wird es manches Mal ganz betro!en still im weiten Rund der Zuschauertribüne am Eutiner See.
Bleibend aktuell: Drohende Machtübernahme durch Rechtsradikale
Dazu passt, dass es ausgerechnet das krasse Gegenbild, das matrosengeile Luder „Fräulein“ Kost von Patricia Hodell, ist, das die Verlobungsfeier mit dem bohrend deutschtümelnden „Volkslied“ vom bald anbrechenden Tag der Machtübernahme Hitlers anstimmt. Das lesenswerte Programmheft von Dramaturg Matthias Gerschwitz verweist darauf, was noch nicht lange her ist: Rechtsradikale Gruppen waren hirnlos genug, dieses kleine Kunstprodukt von hintersinnigen jüdischen Songschreibern als ihr „Kampflied“ zu feiern. So aktuell gibt das Musical Cabaret von 1966 zu denken.
Eutiner Festspiele: Kleine Cabaret-Combo der Kammerphilharmonie Lübeck
Irgendwo zwischen Weill, Jazzkeller und Hollywood: Mit der kräftig zurechtgeschrumpften Reed-Blech-Gitarre-Schlagzeug-Klavier-Combo sucht und findet der Musical-erfahrene Musikalische Leiter Christoph Bönecker den passgerechten Sound. Die Mitglieder der Kammerphilharmonie Lübeck sind diesmal oberhalb des Geschehens in einer Art Zirkusmuschel platziert. Erstaunlich gut halten sie Kontakt zu den zwischen englischsprachigem Original und Deutsch wechselnden Stimmen. Noch fehlt in den fetzigeren Songs vielleicht die allerletzte Spritzigkeit. Aber das kommt im Laufe der Au!ührungsserie und wird das (noch auf Abstand platzierte) Publikum mindestens genauso restlos begeistern wie in der Premiere am 2. Juli.