Liebe, Tod und Leidenschaft: Standing Ovations für eine gelungene Opern-Premiere
Eutin | „Bravo!“ und „Bravi!“ aber vor allem „Brava!“ Der letzte Ton ist verklungen, das Licht erloschen. Mimi ist tot, Rodolfo zerbrochen und das Publikum zutiefst beglückt. Mit der Puccini-Oper „La Bohème“ präsentieren die Eutiner Festspiele in dieser Saison nach dem Musical „Cabaret“ ein weiteres magisches Stück – und mit Alyona Rostovskaya als Mimi einen betörenden Sopran.
Glück gehört unbedingt zu einem Freilicht-Opernabend. Es ist 19.45 Uhr, als die Festival-Verantwortlichen auf dieses Glück vertrauen und die Schlechtwetter-Plane vom Orchestergraben entfernen lassen. Der Blick zur pandemiebedingt auf 28 Musiker reduzierten Kammermusikphilharmonie KaPhil! ist frei, die Akustik ebenfalls (tatsächlich wird bei der Premiere bis zum bittersüßen Opern-Ende kein Tropfen fallen).
Ministerpräsident Daniel Günther begrüßt als Schirmherr die Besucher der Opern-Premiere und hat gute Nachrichten: Der geplante Neubau der Tribüne nach der nächsten Spielzeit kann nun sogar eine mobile Überdachung bekommen, dafür stehen EU-Fördermittel bereit. Das ist den ersten Applaus des Abends wert.
Dann kann der italienischer Abend beginnen und er wird mit einem Clochard (Tilman Madaus) eröffnet, der die grobe Richtung der Geschichte erzählt, die sich gleich abspielen wird. Das hilft allen, die das Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa nach dem Roman „Les scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger nicht kennen, denn gesungen wird wie üblich und im Übrigen auch dem ästhetischen Genuss förderlich in italienischer Sprache. Wer dem Inhalt wortwörtlich folgen will, findet die deutschen Übersetzungen der wichtigsten Arien und Duette auf einem Beiblatt zum Programm.
Die Geschichte ist die junger Leute und es sind junge Stimmen, die auf der Bühne zu erleben sind. Vier Mann stark, tollen die zunächst durch eine Künstlerbude im Paris um 1830: der Dichter Rodolfo (Aleksandr Nesterenko), der Maler Marcello (Miljenko Turk), der Philosoph Colline (Sargis Bazhbeuk-Melikyan) und der Musiker Schaunard (Manos Kia) versuchen, mit knurrenden Mägen in kalter Stube ihre geistige Größe zum Blühen zu bringen. Schwer ist der Alltag der Kreativen, aber auch lustig. „Ein fröhliches, ein schreckliches Leben“, heißt es später im Stück.
Liebe und Leid, Überfluss und Mangel – was das Leben für die Bohème parat hat, kündigt sich an, als Mimi mit den Worten „mein Licht ist erloschen“ die Szene betritt. Da hat sie schon die Herzen, Rodolfos und die des Publikums, erobert, denn diese Mimi ist perfekt: ein zartes Wesen, zurückhaltend, ohne ängstlich zu sein, höflich, aber nicht devot, und vor allem mit einer Stimme ausgestattet, die mit ihrer sensibel gesteuerten Ausdruckskraft wie geschaffen ist für diese ätherische Rolle. Ausdrucksstark ist auch das Spiel, das die Inszenierung verlangt – dies auch umständehalber, denn die Pandemie erfordert Abstand; den auch in einem im zwei Drittel reduzierten Chor, der es dennoch vermag, vermeintliche Massenszenen zu erzeugen.
Junge Solisten glänzen auf der Eutiner Seebühne
Es stimmt alles: die Inszenierung von Igor Folwill, dem es gelingt, das Todtraurige überzeugend mitten im lustigen Lotterleben der Bohèmiens anzusiedeln, die Bühne (Jörg Brombacher), die augenzwinkernd und wie nebenbei die Stereotype dieser vermeintlich erfüllenden armen Künstlerleben entlarvt, die Kostüme (Martina Feldmann), die mit kräftigen Linien die Charaktere nachzeichnen. Es stimmt die Orchestermusik, die Griffith unter den, von den Abstandsgeboten vorgegebenen Bedingungen für nur 28 Orchestermusiker neu gefasst hat und die sein Versprechen einlöst, dass keine Note fehlen werde.
Vor allem aber ist eingelöst, was Regisseur Folwill versprochen hatte, nämlich „qualitativ unglaublich hochwertigen Gesang“. Neben Alyona Rostovskaya stechen aus der Phalanx der schönen Stimmen und spielfreudigen Akteure die Sopranistin Ines Lex in der Rolle als temperametvolle Musetta und der Bariton Miljenko Turk (Marcello) heraus.
Gestorben wird in einer großen Oper, wenn es am schönsten ist. Und Hand aufs Herz: Das Eutiner Finale packt auch nüchterne Betrachter am Wickel der Emotionen. Corona, Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln, schwierige, auch verunsichernde Arbeitsbedingungen? Wie den meisten Menschen hat auch das den Akteurinnen und Akteuren der Festspiele zu schaffen gemacht. Und trotzdem triumphiert die Lust an der Kultur und am Leben. Bravissimi!