La Bohème – vom Jammer einer zeitlosen Künstlermisere
Eutin
Diese Bilder aus dem „Leben der Künstler“ sind zeitlos, dieses Paris des 19.Jahrhunderts trägt den Stempel des „Immer und überall“, was ermöglicht, das ärmliche Künstlermilieu in jede Epoche und jede Umgebung zu transferieren – unsere Symphatie gehört diesen gesellschaftlichen Außenseitern allemal.
Hier werden als asozial beargwöhnte Künstler zu einer Art Halbgötter, eine totkranke Midinette namens Mimi steigt als „femme fragile“ zur lichtum-fluteten, tragischen Heldin auf und selbst die flatterhafte Musetta erweist sich am Schluß als „femme fatale“ mit viel Herz.
Die todgeweihte Mimi leidet einer finalen Verklärung entgegen
Die winterliche Kälte des Originals wird vom Inszenierungteam rund um Regisseur Igor Folwill nahezu ausgespart: dass diese Kultur-Habenichtse dennoch sowohl inner- wie äußerlich frieren, lässt sich mit einiger Phantasie schon angesichts eines karg-skizzierten Bühnenbilds (Jürg Brombacher) und entsprechend fadenscheiniger Kostümierung (Martina Feldmann) unschwer erahnen.
Igor Folwill enthält sich aller modischer Mätzchen und zeichnet sorgfältige Figurenporträts. Ob im Paris des 19. Jahrhunderts oder im corona-gebeutelten Heute zu Eutin: diese todgeweihte Mimi liebt und leidet einer finalen Verklärung entgegen, während ihre Umwelt und auch wir in tränenumflorter Resignation verharren.
Wie gut sind Chor und Orchester?
Und für die Wenigen, die diese Story nicht so genau kennen: ein philosophischer Clochard (trefflich: Tilman Madaus) erweist sich als hilfreicher Conferencier in den Umbaupausen.
Was Chor und Orchester angeht, so wußte Dirigent Hilary Griffith aus der Corona-Not eine Tugend zu machen, indem er die Musiker der Kammerphilharmonie Lübeck auf ein noch vertretbares Minimum reduzierte, so daß zwangsläufig beste Voraussetzungen für kammermusikalisches Musizieren gegeben waren.
So konnte sich das leichte Parlando der Protagonisten mit einem durchsichtigen Orchesterklang mischen, der eine impressionistische Grundstimmung voller sonst kaum gehörter Details bot - Griffiths verstand sich und seine bestens aufgelegten Musiker weitgehend als sensibel reagierende Partner der jungen Protagonisten.
Quirliges Zirkusvölkchen
Und die wußten zu erfreuen: ein gallig-fröhliches Künstlervölkchen mit Miljenko Turks (Marcello) kraftvoll-noblen und Manos Kias (Schaunard) geschmeidigem Bariton nebst dem sonor-kantablen Bass von Sargis Bazhbeuk-Melikyan (Colline).
Ines Lex gab eine aufgedreht-ordinäre Musetta mit einnehmend fraulich-mitfühlenden Facetten im Pianobereich – dazu angemessene Charakterstudien der vielen anderen Akteure. Nicht zu vergessen der von Sebastian Borleis bestens einstudierte Festspielchor, der im zweiten, quietschbunten Bild ein quirliges Zirkusvölkchen imaginierte.
Viel Jubel für die Premiere
Umjubelt natürlich das tragische Liebespaar mit dem lyrisch timbrierten, nie forcierenden und höhensicheren Aleksandr Nesterenko als passionierter Rodolfo und einer anrührenden Mimi, die von Aslyona Rostovskaja voller lyrischer Zerbrechlichkeit, focussierter Kantilene und dynamischen Schattierungen von zartester Süße bis zur strahlenden, etwas scharfen Expression zum beglückenden Ereignis des Abends wurde.
Viel Jubel – auch von der zahlreich anwesenden politischen Prominenz, die in Person von Ministerpräsident Daniel Günther mit finanziellen Zusagen für den Fortbestand der Festspiele bürgte.