Eine Reise durch die Nacht zum Licht
Ein Gespräch mit Anthony Pilavachi (Regie) und Leslie Suganandarajah (Musikalische Leitung) über den „Freischütz“ 2024 in Eutin
Bei den Vorbereitungen für die Saison 2024 der Eutiner Festspiele mit der Eröffnung einer neuen Tribüne war klar: Nach acht Jahren muss „Der Freischütz“ wieder aufgeführt werden. Mit dem bekanntesten Werk des in Eutin geborenen Komponisten Carl Maria von Weber begann 1951 die Geschichte der Festspiele, und in 72 Spielzeiten stand es 43 Mal auf dem Spielplan.
Der Festspielleitung ist es gelungen, für die Aufführung zwei Männer zu gewinnen, mit deren Kompetenz eine aufsehenerregende Inszenierung auf höchstem Niveau garantiert ist: Der international erfolgreiche Starregisseur Anthony Pilavachi und der ebenfalls international hoch angesehene Musikdirektor am Salzburger Landestheater, Leslie Suganandarajah.
Vor ein paar Tagen unternahmen beide in Hamburg einen ersten wichtigen Schritt: Bei einem Vorsingen erfolgte die Auswahl der Solisten, die im kommenden Jahr in Eutin auf der Bühne stehen werden.
Beide setzten sich für diese Aufgabe hohe Ansprüche: Die Opernbesucher sollen 2024 einen Freischütz von höchster Qualität erleben. Viele Eutiner Opernbesucher hätten schon Freischützaufführungen gesehen, auch die sollen 2024, wie Pilavachi und Suganandarajah versprechen, von der Qualität der Akteure und der Inszenierung überrascht werden.
Der Pressesprecher der Eutiner Festspiele, Achim Krauskopf, traf Pilavachi und Suganandarajah während des Vorsingens in Hamburg, das in der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Agentur für Arbeit erfolgte. Das ist eine Agentur, die auf die Vermittlung von Künstlern und Veranstaltern spezialisiert ist.
Das Interview:
Sie haben beide Erfahrungen mit Freilichtveranstaltungen. Was sind die Unterschiede zum Opernhaus?
Suganandarajah: Die Bedingungen können sowohl in einem Opernhaus als auch bei Freilichtaufführungen sehr unterschiedlich sein. Bei einer studentischen Produktion zum Beispiel hatten wir mit sehr viel Wind zu kämpfen, da mussten wir uns mit Wäscheklammern helfen, damit die Notenblätter nicht davonflogen.
Ich hatte mehrere Opernproduktionen in dem Innenhof eines belgischen Schlosses, beim Zomeropera Alden Biesen: Da war die Atmosphäre Wahnsinn, eine solche Kulisse und das besondere Tageslicht kann man in keinem Opernhaus erzeugen.
Und es gibt bei Open Air magische Momente, wenn zum Beispiel ein Vogel anfängt, zu zwitschern. Ich bin ohnehin überzeugt, dass Vögel auf Musik reagieren. Solche Momente finde ich einfach unbezahlbar schön. Im Übrigen finde ich Oper immer magisch.
Pilavachi: Ich saß in Eutin beim „Maskenball“ zwei Stunden lang in strömendem Regen, eingepackt in ein Regencape aus Plastik. Trotz vieler anderer Erfahrungen bei Freiluft-Veranstaltungen war das ein besonderes Erlebnis: Plötzlich wirkte in diesem Regen der Klang der Musik kristallklar, so faszinierend, als käme er aus einer anderen Welt, aus einer anderen Dimension. Und ich habe mich gefragt: Ist das der Klang, den der Komponist im Kopf hatte?
Dieser Klang war wirklich unglaublich, sei es der Gesang oder das Orchester, alles hatte plötzlich eine neue Dimension, die ich vorher noch nie erlebt habe. Deshalb bin ich trotz dem Regen bis zum Schluss geblieben. Wow, dafür macht man Musik. Einen derart idealen Klang möchte man erleben.
Bei den Eutiner Festspielen ist früher sehr lange sehr viel Wert auf Werkstreue gelegt worden. Was denken Sie darüber?
Pilavachi: Was ist Werkstreue? Es ist meistens eine Tradition von Wiederholungen, und ich glaube, kein Opernkomponist hat sich vorgestellt, dass seine Werke ewig unverändert bleiben. Ein Kunstwerk ist ein echtes Kunstwerk, wenn es den Wandlungen und Geschmack des Publikums angepasst werden kann. Werke, die das nicht geschafft haben, sind in Vergessenheit geraten.
Und mit Werkstreue wurden Aussagen von Komponisten, die für ihre Zeit viel zu fortschrittlich waren, einfach ausradiert, um den angeblichen Geschmack des Publikums und der Kritiker zu treffen. Dabei sind wichtige Inhalte der Stücke einfach verlorengegangen. Das ist auch ein Problem des „Freischütz“.
Also lieber keine Werkstreue?
Pilavachi: Ich mag Tradition und Moderne gerne mischen. Ich nehme von der Tradition, was ich als wertvoll empfinde. Ich hasse Tradition, die sich als Krebs eines Stückes erweist.
Es hat ja in Eutin auch Freischütz-Inszenierungen gegeben, die als skandalös empfunden wurden, bei denen das Publikum gebuht hat. Aber es hat für Diskussionen gesorgt. Mir sind Aufführungen lieber, bei denen das Publikum reagiert und man über Provokationen spricht, als wenn die Zuschauer schon auf der Fahrt nach Hause vergessen, was sie gesehen haben. Und bedenken Sie: Das Publikum heute ist viel offener, die Menschen reisen zu Aufführungen. Zu vielen Inszenierungen, die ich in Lübeck gemacht habe, kamen Leute zum Beispiel aus Berlin und Bayern.
Wie ordnen Sie den Freischütz ein?
Pilavachi: Ich versuche immer zu ergründen, was die Ideen der Komponisten waren. Was wollte Carl Maria von Weber im Jahr 1822 sagen? Der Freischütz wurde zur „deutschen Nationaloper“, obwohl das Werk vollkommen unpolitisch ist: Bei den Liedern spielt Nationalismus keine Rolle, es wird nie über die Deutsche Nation gesprochen.
Man hat dem Stück dieses Etikett verpasst, an dem es fast erstickt ist, und die Nationalsozialisten haben es massakriert. Es war lange aus den Spielplänen verschwunden, bevor es langsam mit modernen Variationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder in die Opernhäuser zurückgekehrt ist. Das einzige richtig Deutsche an dem Stück ist für mich der Neid der Gesellschaft gegenüber jemandem, der versucht, erfolgreich zu sein.
Und was wollte Weber nach Ihrer Überzeugung sagen?
Pilavachi: Bevor du jemanden kritisierst, schau selbst in den Spiegel. Das ist, was die Gesellschaft vermeidet. Sie setzt Max die ganze Zeit unter Druck, kritisiert und belastet ihn. Dabei sehnen sich Max wie auch Agatha nach Freiheit. Sie erstickt in der Försterei und hofft, dass sie durch Max befreit wird. Er versucht, sein Bestes zu geben, ist aber total überfordert, weil er der falsche Kandidat ist.
Ich denke, dass Carl Maria von Weber der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten wollte. Wer frei ist von Sünde, der werfe den ersten Stein.
Vor allem erschreckend sind die letzten Worte im Stück: Man solle der kindlichen Milde des Vaters vertrauen. Das kommt drei Mal. Welcher Vater? Die Politik?
Oder Gott?
Pilavachi: Es wird in dem Stück die ganze Zeit über Gott gesprochen. Zugleich hat man den Eindruck, dass Gott alle verlassen hat. Und der Eremit gibt am Ende eine neue Richtung. Das hat man früher vermutlich als eine Befreiung von den Zwängen interpretiert.
Aber im Grunde ist der Freischütz ein Stück über Ängste, der Versuch, Traditionen zu respektieren, denen man aber nicht mehr folgen kann, weil sie tot sind. Die Gesetze gelten nicht mehr. Wer auf Gott vertraut, baut gut, aber auch Max fragt einmal: Gibt es keinen Gott mehr?
Was können wir also bei Ihrer Inszenierung erwarten?
Pilavachi: Ich versuche, die Ideen in diesem Stück auf unsere heutige Gesellschaft zu übertragen. Klar ist: Es wird keine modernen Kostüme geben. Ich werde keine Anspielungen auf die Ukraine, Israel, Palästina oder etwas Ähnliches machen, das braucht man nicht. Ich glaube, das Stück betrifft Entscheidungen im Leben einer Gesellschaft, die total versteinert und verschlossen ist.
Die Handlung ist zum Ende des 30-jährigen Krieges angelegt. Das bedeutet, dass die ganze Gesellschaft traumatisiert ist. Man stelle sich vor, ein Soldat, der im Einsatz in Afghanistan traumatische Erfahrungen gemacht hat, soll nach seiner Heimkehr in seinem Dorf ein Gewehr in die Hand nehmen und Treffsicherheit beweisen. Es ist verständlich, wenn er das angesichts seiner traumatischen Erlebnisse vielleicht nicht kann.
Max ist in dieser Situation. Und er wird Agathe und die Försterei nicht bekommen, wenn er es nicht kann. Auch Agathe erwartet das von ihm, denn mit Max hat sie vielleicht die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Ich glaube, sie würde jeden heiraten im Dorf, sofern er in der Lage ist, ihr ein neues Leben zu ermöglichen.
Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Pilavachi: Agathe zum Beispiel muss, damit sie heiraten darf, jungfräulich sein. Aber im Gespräch mit Ännchen über Kaspar fällt der Satz „der Knecht ist zu weit gegangen“. Was ist mit Agathe passiert, ist sie wirklich noch Jungfrau? Es gibt immer wieder Anspielungen sexueller Natur, wenn zum Beispiel Kuno zu Max sagt, dass beides, Leid und Wonne, aus seinem Rohr kämen; das wird also Sinnbild für männliche Potenz.
Und warum gehen Max und Kaspar in die Wolfsschlucht? Dort sind die Seelen der Opfer des Krieges. Ein Ort des Grauens, an dem die Verbrecher begraben sind, es ist ja eine Gruselgeschichte. Bei der Inszenierung in Eutin werden in der Wolfschlucht die Ängste und Halluzinationen von Max stattfinden.
Interessant finde ich, dass Agathe träumt, was in der Wolfsschlucht passiert ist. Erstaunlicherweise wollen Agathe und Max durchgehend das Gleiche, und ich glaube nicht, dass Agathe einfältig und naiv ist, wie sie in der Tradition dargestellt wurde. Das Ideal der Frauen in der Romantik war nicht unbedingt das Heimchen am Herd, aber Frauen sollten sanft sein. Darin spiegelt sich die bis heute bei vielen Männern verbreitete Furcht vor starken Frauen.
Generell ist die Handlung wie eine Reise durch die Nacht ins Licht, genauso wie es Mozart mit der Zauberflöte oder Beethoven mit Fidelio gemacht haben. Alles strebt zum Morgen, aber die Menschen werden dann nicht mehr die gleichen sein wie am Vortag. Es sind die Prüfungen, die junge Menschen wie Max bestehen sollen und die sie verändern.
Wie viel Spielraum hat ein musikalischer Leiter?
Suganandarajah: Der Notentext ist begrenzt, aber alles darf hinterfragt werden. Ich sehe hier und da die Notwendigkeit, Sachen zu verändern, wenn Notentexte nicht eindeutig sind oder wenig Sinn ergeben. Dann kommt noch ein wichtiger Parameter dazu: Um die Geschichte zu erzählen, möchte ich dafür sorgen, dass die Sänger transparent zu verstehen sind. Das wird nicht über Dezibel definiert, sondern muss auch über eine Farbe geschehen. Solche Freiheiten muss man sich erlauben, wenn man keine „tote Oper“ produzieren will“.
Und immer wieder muss man fragen: Was ist der Sinn? Wie will man die Geschichte erzählen? Welche Mittel hat man dafür zur Verfügung? Und man muss sich natürlich auch den Gegebenheiten anpassen: Was gibt es denn für Bedingungen auf der Eutiner Bühne? Was müssen wir verändern, damit wir herausarbeiten können, was der Komponist wollte - oder besser das, was wir glauben, was er wollte.
Pilavachi: Das ist auch für die Zusammenarbeit sehr wichtig. Wenn mir Leslie sagt: „Ich sehe die Szene so oder ich empfehle dieses Tempo für die Szene,“ dann kann ich meine Ideen adaptieren. Vielleicht hat er eine Idee, die ich nicht hatte. Und das ist das Tolle an Zusammenarbeit. So haben sich meine Konzepte im Laufe der Jahre auch verändert. Bei meinem ersten Freischütz 2005 in Krefeld lag die Wolfsschlucht in einer Stadt mit Hochhäusern. Es war eine Geisterstadt und die Chorsänger waren Schaufensterpuppen, die Zombies wurden. Das hat funktioniert.
Wird aber im Umfeld eines Schlossgartens wie in Eutin nicht gehen.
Pilavachi: In Eutin werde ich versuchen, die Atmosphäre der Natur auf dieser riesigen Bühne zu nutzen, damit wir zusammen mit der Musik eine starke Aussage schaffen. Es muss eine emotionale Aussage werden, die die Leute vielleicht sogar zum Lachen bringt. Grauenvolle Schönheit hat ja ihren Reiz, das lieben Menschen. Klar ist aber auch: Das Stück wird sich in vielen Teilen erst während der Proben entwickeln.
Mein Ziel ist auch, dass sich die Akteure mit dem Stück weiterentwickeln, und das tun sie auch. Jeder hat Freiraum und nutzt ihn. Deshalb gehe ich bei meinen Stücken unbedingt zur letzten Vorstellung. Dann denke ich immer: Wow, so hätte ich das gerne bei der Premiere gehabt.
Wie waren die Auditions in Hamburg?
Suganandarajah: Viele angenehme Überraschungen. Ich gehe möglichst unbelastet ans Vorsingen, schaue mir keine Lebensläufe an und schließe beim Zuhören zunächst die Augen. Oft gibt es eine Überraschung, wenn ich die Augen öffne: Da war der Klang total spannend, aber im Gesicht passiert überhaupt nichts. Andersherum passiert es viel häufiger: Alles klingt gleich, sehr brav, wenig Klangfarben, aber der Kandidat liefert optisch ein Feuerwerk. Wir haben die Devise: Wir machen keine Kompromisse. Die Solisten müssen beides können, singen und agieren, wir wollen wirklich lebendiges Musiktheater.
Pilavachi: Wir haben eine Verantwortung gegenüber dem Publikum. Wir wollen, dass auch die Zuschauer, die das Stück kennen, überrascht werden und neue Leute entdecken. Es gab in Eutin viele Freischütz-Inszenierungen mit herausragenden Sängern. Wir versuchen, das zu toppen. Und ich finde es toll, dass uns die Eutiner Festspiele die Möglichkeit geben, die besten Leute auszusuchen und keine Direktion sagt, dass bereits eine Besetzung beschlossen ist. Schön, dass uns dieses Vertrauen geschenkt wird.
Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.
Zur Person
Anthony Pilavachi ist in Zypern geboren, in Frankreich aufgewachsen und irischer Staatsbürger. Er hat an der Guildhall School of Music and Drama in London studiert. Seit 1987 ist er vorwiegend an Opernhäusern in Deutschland tätig, darüber hinaus hat er in vielen anderen europäischen Ländern sowie in Taiwan, USA und Südamerika gearbeitet. Für seine „Capriccio“ -Inszenierung gewann Pilavachi 2018 den Österreichischen Musiktheaterpreis für die Beste Opernproduktion.
Die Liste der Stücke, die Pilavachi inszeniert hat, ist ebenso umfangreich wie die Orte, an denen er engagiert war und spannen einen weiten Bogen von der Klassik bis in die Moderne. Besonders häufig war er mit bislang 20 Inszenierungen in Lübeck tätig. Die jüngsten Arbeiten des vielbeschäftigten Regisseurs waren Wagners „Lohengrin“ in Lübeck, Mendelsohns „Elias“ im niedersächsischen Oldenburg, die Gounod-Oper „Margarethe“ (Faust) in Krefeld, im Oktober hat seine Inszenierung von „My fair Lady“ in Weimar Premiere.
Leslie Suganandarajah ist seit 2019 Musikdirektor am Salzburger Landestheater. Er wurde 1983 in Sri Lanka geboren und kam im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Suganandarajah erhielt in der Kindheit Klavier-, Querflöten- und Orgelunterricht, studierte an den Musikhochschulen in Hannover, Lübeck und Weimar.
2012 wurde er 2. Kapellmeister, drei Jahre später 1. Kapellmeister am Theater Koblenz und in der selben Funktion 2017 am Landestheater Linz. Seit der Spielzeit 2019/2020 ist er Musikdirektor am Salzburger Landestheater, wo er mit Wagners „Lohengrin“ in der Felsenreitschule seinen Einstand gab. In diesem Jahr 2023 stand er bei der Strauss-Operette „Die Fledermaus“ sowie der Verdi-Oper „Aida“ am Dirigentenpult.