Cooler Start mit Webbers „Jesus Christ Superstar“
Die neue Musical-Aufführung aus Kritiker-Sicht: tatsächlich die gelungene Version von „Jesus 2.0“
Auf den Smartphone- und Tablett-Displays, die den Grünen Hügel der Eutiner Festspiele sensationslüstern gliedern wie giftige Pilze, flimmert die sündige Last der christlichen Kunst- und Kulturgeschichte. Gequält von bösen Vorahnungen muss Judas mitansehen, wie der Hoffnungsträger einer besseren, friedvolleren Welt erst vergöttert, dann instrumentalisiert und schließlich als vermeintlich falscher Verführer verklagt und qualvoll vernichtet wird.
Dieser zwölfte Jünger selbst, gespielt und enervierend intensiv gesungen von Florian Minnerop, trägt durch korrumpierten Verrat maßgeblich zum Sturz der medial gehypten Ikone bei – und richtet sich schuldbeladen selbst, sodass er die Kreuzigung nur noch als verlorene Seele miterlebt.
Kultiges Musical in digitaler Video-Ästhetik aktualisiert
„Jesus Christ Superstar“, die vielfach gefeierte und für seinen grenzwertigen Unterhaltungscharakter auch kritisierte Musical-Version der Passionsgeschichte, könnte als olle Klamotte der Rockgeschichte scheitern – in Jesuslatschen oder Schlaghose. Dem Regisseur Till Kleine-Möller gelingt mit seinem Bühnenbildner Jörg Brombacher, dem Choreografen Timo Radünz, dem Videokünstler Grigory Shklyar und dem Lichtdesigner Rolf Essers aber tatsächlich die Version „Jesus 2.0“.
Im Style „Retrofuturismus“ wird die über 2000 Jahre alte Geschichte so britisch frech aufgegleist, wie Andrew Lloyd Webber sie 1971 mit seinen damals unerschrockenen 23 Jahren gemeinsam mit dem Texter Tim Rice gedacht hatte. Und Spezialist Christoph Bönecker animiert am Pult das bestens besetzte Ensemble und die Kammerphilharmonie Lübeck zu einem quietschfidel rotzigen Sound, der zwischen Hinterhof-Garage mit gniedelnder E-Gitarre bis pseudosakral, berauschend popsinfonisch oder bewegend intim alles Nötige bietet.
Starkes Open-Air-Ensemble mit Emilio Moreno Arias als Jesus Christ Superstar
Jesus, als vergötterter und wieder fallengelassener Superstar des modernen Medienzeitalters hier Stellvertreter von Leitfiguren wie Martin Luther King bis Greta Thunberg, ist mit dem Niederländer Emilio Moreno Arias ideal besetzt. Zerbrechlich und androgyn wird er zu einer Art Amy Winehouse der Musicalbühne, wechselt virtuos Stimm- und Stimmungslagen bis hin zum völlig überforderten Aufschrei.
Maria (Antonia Kalinowski) sowie die Jünger Petrus und Simon (Maximilian Aschenbrenner und Florian Heinke) umkreisen ihn ehrerbietend liebevoll, tragen aber durch ihre erwartungsstrammen Heilsparolen auf ihren Plakaten und Social-Media-Kanälen wesentlich zum Overkill bei.
Sonnenbebrillte Hollywood-Finsterlinge
Pedro Reichert lässt die unter männlicher Härte kaschierten Zweifel des Gewaltherrschers Pilatus durchschimmern. Die Gegner attackieren und skandieren als sonnenbebrillte Hollywood-Finsterlinge (Annas oder Kaiphas: Julius Störmer, Tobias Blinzler) oder werden in Talkshow-Manier kabarettistisch höhnend überzeichnet (Herodes: Joachim Kaiser).
Man hätte im abwechslungsreichen Sturm der digitalen Live-Bilder mit deutscher Untertitelung noch mehr Verständnis erzeugen und die Verstärkung der Stimmen hier und da noch in der Lautstärke vor Übersteuerung bewahren können. Dennoch verfehlt die Produktion ihre starke Wirkung beim mitfeiernden und (nicht nur wegen des beständigen Nieselregens) mitleidenden Premierenpublikums nicht. Ein großer Erfolg zum Start in eine schon wegen der neuen Zuschauertribüne rekordverkauften Saison im Schlosspark Eutin.