Chris Jarrett sucht nicht mehr, er hat den Ausdruck gefunden
Mit dem Jazzpianisten begann eine furiose Eröffnung einer Serie von Veranstaltungen der Eutiner Festspiele auf der Studiobühne
Während der Bösendorfer Flügel eine Menge klassischer Pianisten und Korrepetitoren erlebt haben wird, geriet das Instrument durch das virtuose Klavierspiel des Pfälzers Chris Jarrett diverse Male an seine Grenzen.
Mit dem neuen Sonderformat jenseits der großen Produktionen knüpften die Eutiner Festspiele an die legendären Jazz- und Blueskonzerte vergangener Zeiten an. Die minimalistische Architektur der Probebühne mit ihrem beeindruckenden offenen Dachstuhl, ausgestattet mit der Ameise als Sitzmöbel und den wunderbaren Poulsen-Lampen, bot den perfekten Rahmen für ein wohl einzigartiges Konzert.
Sparsam akzentuierte Beleuchtung schuf die Atmosphäre, die das Spiel des Pianisten und Komponisten in seiner atemberaubenden Virtuosität zum Schwingen brachte. Chris Jarrett, in Deutschland lebender Bruder des weltbekannten Jazzpianisten Keith Jarrett, moderierte einzelne Stücke seines Konzertes an, gab den Zuhörern sozusagen eine Idee an die Hand, was der Background zur Komposition des Stückes war.
Raumfüllende Klangwelt
„Tales of our Times“ oder auch „New Journeys“ sind Begriffe, mit denen Jarrett seine Kunst bezeichnet. Gleich das erste Stück nahm die Zuhörer mit in seinen Bann. Hohe, chromatisch absteigende Tremoli über kräftige Bassakzente schufen eine Klangwelt, die den Raum füllte. Ein Klangteppich breitete sich aus – ein Hörempfinden, dass an den Einsatz eines kräftigen dritten Manuals einer großen Kirchenorgel erinnert.
„Finaly talking“: Jarrett nannte familiäre Auseinandersetzungen als Hintergrund. Schnell stellte sich der Gedanken an Schumanns Kinderszenen ein: „Glückes genug“ in die heutige Zeit versetzt? In einem Presto erstarken emotionale Gefechte im Bass, nach einem einschreitenden Diminuendo antwortet ein zartes Lamento der Oberstimmen. Spätestens jetzt war der letzte Hörer elektrisiert über derart charismatische Energie des unorthodoxen Pianisten.
Emotionales Selbstgespräch
Sehr persönlich wurde Jarrett in einem Stück, in dem Gedanken zu seiner 92 Jährigen, 2014 verstorbenen Mutter reflektiert wurden. Viele nie ausgesprochene Dinge, so Jarrett in seiner Ankündigung, führten zu einem musikalischen höchst emotionalen Selbstgespräch, sphärische Sequenzen folgten auf dichte Tonfolgen.
Der Höhepunkt des Abends: „The Darkening“. Das 2008/20 komponierte Stück nimmt etwas voraus, was die Entwicklung der Katastrophen heutiger Tage erahnen ließ. Chromatik, Polyrythmen, quirlige Klangfolgen und -farben, düster entschwindende Läufe im Nichts, sphärische Obertöne durchweben einen Klangteppich: Jarrett fühlt sich in die Musik hinein, bewegte selbstverständliche Verinnerlichung findet ihren Ausdruck.
Erdball im Chaos
Ein bassdominiertes Klangchaos, ein Donnerhall im dreifachen Fortissimo lässt den sich abdrehenden Erdball ins Chaos gleiten. Was bleibt, wird ein Hauch sein – ein nachhallender Ton stellte die Frage nach Sinn und Verstand vorausgesehener Entwicklungen unseres Erdballs.
Ein fassungsloses wie begeistertes Publikum, der Künstler hat erreicht, was er wollte. In diesem Moment stellt sich ein Picasso-Zitat ein: Jarrett sucht nicht den Ausdruck, er findet ihn. Zum Ende toppt Jarrett den großen Abend mit seiner „Introduction and Solemn March“. Die Hörer erlebten einen furiosen Schlusspunkt, gleichsam das Statement des Abend: Here I am and that’s my music. Man sollte zurückhaltend sein mit überbordendem Lob, aber das war grandios.