Eine "große" Inszenierung
Mit der Intensität, mit der Oliver Urbanski als Conférencier das Publikum auf der großen Open-Air-Bühne in Eutin begrüßt, bleibt kein Zweifel, dass es ein fulminanter Abend werden würde. Und: Das Versprechen wurde gehalten! Urbanski ist seit vielen Jahren “der” Conférencier im Berliner TIPI am Kanzleramt, sodass ihm die Rolle wie eine zweite Haut passt.
Natürlich spielt er hier – zunächst – größer und lauter, um die knapp 1.000 Zuschauer auf der Tribüne zu erreichen. So zieht er charmant das Publikum schnell in seinen Bann und führt es direkt in das verruchte Cabaret. Wer die Handlung nicht kennt, dürfte fast eine Stunde lang nicht vermuten, dass die Story auf allen Ebenen bitter wird.
Die Kostüme von Martina Feldmann für die Kit-Kat-Belegschaft sind sexy und knapp, die frischen Choreografien von Vanni Viscusi tun ihr Übriges. Kurz: Es gibt viel zu sehen. Der harte Bruch wird erst am Ende des ersten Aktes spürbar, als Ernst Ludwig (Mario Zuber) mit Hakenkreuzbinde am Arm die Verlobungsfeier von Frl. Schneider und Herrn Schultz verlässt.
Das ältere Paar, gespielt von Susanna Panzner und Tilman Madaus, ist äußerst sympathisch, liebevoll und hat die Herzen der Zuschauer rasch auf seiner Seite. Panzner, die ursprünglich für die Rolle der Frl. Kost vorgesehen war, ist der heimliche Star der Inszenierung. Nie habe ich erlebt, dass diese Rolle mit derart viel Applaus und so vielen Lachern bedacht wurde. Dabei bleibt Panzner in ihrer Darstellung stets tiefgründig und ernsthaft. Ihre Verzweiflung, aus Not die Verlobung wieder zu lösen, rührt zu Tränen. Gesanglich sind ihre Songs – insbesondere “Wie geht's weiter” – ein Genuss.
Das Frl. Kost wird nun von Patricia Hodell verkörpert, und das mit sichtlichem Spaß. Auch Jasmin Eberl spielt ihre Rolle nicht zum ersten Mal. Ihre Sally, die Nachtclub-sängerin mit dem Hang zum Gin, ist anfänglich sehr exaltiert. Umso extremer fällt dann die Szene aus, in der sie Cliff beichtet, dass sie das gemeinsame Kind abgetrieben hat. Gesanglich ist Eberl top: mit gutem Druck und dem passenden “Dreck” in der Stimme. Zu Recht gibt es dann für den Titelsong im zweiten Akt lang anhaltenden Applaus. Eindrücklich ist auch ihr “Maybe this time”, in dem ihre Verzweiflung voll und ganz zum Ausdruck kommt.
Wie in vielen Inszenierungen sind die Cliff-Songs bis auf das Duett ”Einmalig himmlisch” gestrichen. So kann Julian Culemann wenig von seinen Sangeskünsten zeigen. Sein Cliff Bradshaw ist eher zurückhaltend, sodass er Jasmin Eberl ganz den Raum lässt, ihre Rolle groß zu spielen. Schön ist an dieser Produktion, dass es nicht nur Kit-Kat-Girls gibt, sondern auch eine Reihe von Boys, die in kleineren Inszenierungen oft gestrichen werden. Einer von ihnen ist Christian Rosprim, mit dem »musicals« vor einem Jahr ein Interview anlässlich seines Abschlusses an der Hochschule Osnabrück unter Corona-Bedingungen führte.
Nachdem das letztjährige Engagement, das direkt an seine Ausbildung angeschlossen hätte, abgesagt werden musste, dauerte es noch ein weiteres Jahr bis zu sei-nem ersten Auftritt. Seine Spielfreude, sei-ne Präsenz, die Interaktionen mit den ande-ren Darsteller*innen waren einfach großartig. Und so war es bei allen Ensemblemit-gliedern: unglaubliche Spielfreude, viel Energie. Allesamt ein echter Hingucker.
Die Inszenierung von Tobias Materna verzichtet bis auf wenige Requisiten (ein Bett) auf weitere Ausstattung. Die Bühne ist eine riesige Manege, in der alle Szenen spielen. Das ist völlig ausreichend, da das 16-köpfige Ensemble die Bühne oft großflächig bevölkert. Das Zirkusthema wird aber in der Show gar nicht aufgenommen. Beispiels-weise wäre eine Artisten-Choreografie wie in “Hokuspokus” aus der Kander/Ebb-Show ‘Chicago’ denkbar gewesen.
Materna versucht, dem Eutiner Publikum möglichst lange einen “schönen Abend” zu bescheren. Obwohl die Kit-Kat-Girls und -Boys sexuell recht offen und umtriebig inszeniert sind, wird aber die eigentlich offensichtliche Homosexualität von Cliff ausgespart. Auch wird am Anfang des zweiten Aktes, wenn aus den unterschiedlichen Menschen auf der Bühne allesamt marschierende NS-Anhänger werden, die den Arm zum Hitlergruß heben, die Szene kräftig veralbert, indem der Conférencier die Armhaltung korrigieren muss. Eindrücklich ist dann aber die Szene, in der Cliff zusammengeschlagen wird. Dies geschieht oben auf der Hauptbühne unter lautem Getöse, während der Conférencier vorne am Orchestergraben sitzt und unverstärkt zum Akkordeon sein “I don't care much” singt.
Der Graben bleibt in dieser Produktion ungenutzt, da das 12-köpfige Orchester unter der Leitung von Christoph Bönecker hinten mit auf der Bühne sitzt. Den Score mit einer Reihe von Blasinstrumenten und vollem Klang zu hören, macht Spaß. Eigentlich war für dieses Jahr die ‘West Side Story’ geplant, doch man hatte Sorge, weil bei der Produktion viel mehr Menschen auf der Bühne und im Orchestergraben gewesen wären. Fast möchte man sagen, zum Glück, denn so entstand eine für ‘Cabaret’-Verhältnisse große Inszenierung.
Direkt neben der Festspielbühne steht übrigens das Eutiner Schloss, in dem eine Reihe von Szenen für die ‘Cabaret’-Verfilmung mit Liza Minnelli gedreht worden sind. Al-so der perfekte Ort für diese Show.
Cabaret – Musik: John Kander; Text: Fred Ebb; Buch: Joe Masteroff; Übersetzung: Robert Gilbert; Regie: Tobias Materna; Choreografie / Co-Regie: Vanni Viscusi; Bühne: Jörg Brombacher; Kostüme: Martina Feldmann; Licht: Rolf Essers; Ton: Christian Klingenberg; Musikalische Leitung: Christoph Bönecker. Darsteller: u.a. Jasmin Eberl (Sally Bowles), Oliver Urbanski (Conférencier), Julian Culemann (Clifford Bradshaw), Susanna Panzner (Frl. Schneider), Tilman Madaus (Herr Schultz), Patricia Hodell (Fräulein Kost), Mario Zuber (Ernst Ludwig). Broadway-Premiere: 20.11.1966, Broadhurst Theatre, New York. Deutschsprachige Erstaufführung: 14.11.1970, Theater an der Wien, Wien. Premiere: 02.07.2021, Eutiner Festspiele, Eutin. www.eutiner-festspiele.de