
Die WEST SIDE STORY zwischen Liebe und Brutalität
Vor ausverkauften Publikumsrängen wird Shakespeares Romeo und Julia Thematik im Musical nach New York versetzt und begeistert in einer zeitlos aktuellen und ergreifenden.
Während Till Kleine-Möller (Inszenierung) in der letztjährigen Produktion von JESUS CHRIST SUPERSTAR (wir berichteten) auf einen progressiven Ansatz setzte, folgt seine Inszenierung der WEST SIDE STORY mit gezielten Akzenten der klassischen Betrachtungsweise. Einerseits wird dadurch wohl eine Bedingung zur Rechtevergabe erfüllt, andererseits ist das 1957 in New York uraufgeführte Stück aber kein bisschen angestaubt und hat eine Neuinterpretation einfach nicht nötig. Die brutale Thematik, abseits der Liebesgeschichte, wirkt brandaktuell – Einwanderer treffen auf rassistische Ablehnung und Schikane der ansässigen Bevölkerung. Im Musical durch die beiden rivalisierten Gangs dargestellt: Auf der einen Seite die Jets, „echte“ Amerikaner, die bei aller Perspektivlosigkeit doch ihre Herrschaft im Viertel vor den Einwanderern verteidigen wollen und sie als störende Eindringlinge vorverurteilen. Auf der anderen Seite die Sharks, Puerto Ricaner, die in ihren Hoffnungen enttäuscht ebenfalls den Konflikt suchen und ihrerseits wenig Toleranz für Sitten und Gebräuche auf dem amerikanischen Festland zeigen. Wie explosiv und zerstörerisch die Stimmung ist wird zum Ende des ersten Akts sehr gelungen mit einem Feuereffekt unterstrichen. Ein Effekt der sich in anderer Weise auch am Ende des zweiten Akts wiederfindet, wenn der Brunnen zu neuem Leben erwacht. Diesmal als Hoffnungssymbol für einen friedlichen Neuanfang.
Die von Jörg Brombacher gestaltete Bühne zeigt ein heruntergekommenes New Yorker Stadtviertel. Im hinteren und seitlichen Bereich wird die Spielfläche von einer Häuserfassade und zwei großen, beweglichen Treppenelementen begrenzt. Müll und Schrott zieren das Bild. Überall machen die beiden verfeindeten Gangs in Graffitis ihre Ansprüche deutlich: „White Power“ und „Jets 4 ever“ trifft auf „Stolz Stärke Sharks“ und „Black is Beauty“. Durch das Abrücken der beiden großen Treppenelemente werden mit dem Hochzeitsmodengeschäft und Marias Zimmer zwei neue Spielräume eröffnet. Im Mittelpunkt, ähnlich der Berliner Siegessäule hoch über dem Geschehen aufragend, befindet sich auf einem eingerüsteten Brunnen eine Engelsstatue – ein Sinnbild für Frieden und Versöhnung. Das Gerüst dient außerdem u. a. als Spielort für die berühmte Balkonszene zwischen Maria und Tony.
Für Kostümbild und Choreografie zeichnet Timo Radünz verantwortlich. Zwar lassen die Kostüme sich zeitlich nicht so recht einordnen, sie grenzen die Rivalen jedoch deutlich voneinander ab. Während die Jets eher in gedeckten Farben und mitunter groben Stoffen in Erscheinung treten, werden die Sharks in teils leuchtender Kleidung oder glänzenden mit glitzernden Applikationen verzierten Stoffen in Szene gesetzt. Mit ihren pinken Stiefeln wird Maria unter den puerto-ricanischen Frauen noch einmal besonders hervorgehoben. Ebenso fällt Jet-Anführer Riff mit seinen orangefarbenen Haaren sofort ins Auge. In seiner ebenso schwungvollen wie anspruchsvollen Choreografie hebt Radünz die Individualität der einzelnen Gangmitglieder hervor anstatt die Gang in vollkommener Synchronität gleichzuschalten und distanziert sich damit auf gelungene Art und Weise in vielen Szenen von der so berühmten Originalchoreografie. Trotz der Größe der Seebühne schafft es Radünz durch gute Raumaufteilung lebendige Bilder zu erzeugen. Wenn zeitweise an die dreißig Darsteller über die ausladende Spielfläche wirbeln, erscheint das Geschehen optisch umso wirkungsvoller. Wie bereits bei den Kostümen zieht auch die Choreografie einen klaren Trennstrich zwischen den beiden erbitterten Gegnern, der sich auch im Mix der Musikrichtungen in Bernsteins Partitur widerspiegelt.
Maßgeblichen Anteil am Erfolg dieses Musicals hat ganz sicher Bernsteins eingängige Musik mit ihrer Mischung aus Klassik, Jazz und lateinamerikanischen Rhythmen. Durch den Einsatz des Tritonus, einer Halboktave, werden Spannung und gnadenlose Brutalität über die Musik spürbar. Dankenswerterweise wird die faszinierende Musik Bernsteins in Eutin unter der Leitung von Christoph Bönecker in der großen Orchesterfassung gespielt und zudem sogar noch die Anzahl der Streicher erhöht, was einen noch symphonischeren Klang erzeugt. Mal wuchtig aufspielend, mal fein das Geschehen untermalend wird im Orchestergraben mit effektvollen Akzentuierungen gearbeitet. Einziger Wermutstropfen sind die etwas holprigen deutschen Übersetzungen von Stephen Sondheims eigentlich so poetischen Gesangstexten, wiederum eine Bedingung für den Erhalt der Aufführungsrechte.
Die Darsteller präsentieren sich allesamt spiel- und bewegungsfreudig. Mit spektakulären choreografischen Elementen und ungeheurer Ausdruckskraft sticht John Hewitt aus dem insgesamt tanzstarken Ensemble noch hervor. Robert Lankester bringt einen schnell aufbrausenden und oftmals provokanten Riff, Anführer der Jets und damit erbitterter Gegner der Sharks, auf die Bühne. In seiner Freundschaft und Loyalität zu Tony offenbart er aber auch eine weitere Seite seines Charakters. Gesanglich wirkt Lankester gefällig. Auf der anderen Seite versucht Davide Dal Seno als stolzer Puerto Ricaner Bernardo, Anführer der Sharks, sein Territorium zu erobern. Dabei zeigt er sich temperamentvoll, besonders im Bezug auf seine Schwester Maria oft ein wenig machohaft, mitunter aber auch durchaus charmant.
Florian Minnerop hat als Tony seinem Leben eine neue Perspektive gegeben. Statt auf der Straße rumzuhängen und gemeinsam mit den Jets um die Vorherrschaft auf den Straßen ihres heruntergekommenen Viertels zu kämpfen, geht er einer ehrlichen Arbeit nach. Die verzweifelten und aufrichtigen Bemühungen durch sein Handeln sowohl seiner großen Liebe Maria, als auch seinem besten Freund Riff gerecht zu werden, sowie seine schwärmerisch-romantischen Gefühle für Maria werden zweifelsfrei deutlich. Seine Songs präsentiert Minnerop gefühlvoll und mit angenehmer Stimme und harmoniert in den Duetten bestens mit seiner Bühnenpartnerin Meera Varghese. Sie schlüpft in die Rolle der Maria, die zunächst ziemlich naiv ihre romantischen Träume verfolgt. Wie die brutale Realität aussieht bekommt sie auf bitterste Art und Weise zu spüren – und doch gelingt es ihr im grausamsten Augenblick ihres Lebens Feinde zu vereinen und Frieden zu stiften. In ihren Songs glänzt Varghese mit einem beeindruckenden Spagat zwischen großer Eindringlichkeit und Leichtigkeit. Ihre schöne, klassisch ausgebildete Stimme beschert dem Publikum so einige Highlights.
Für eine ganz besonders beeindruckende Leistung sorgt Anita Darstellerin Kerry Jean. In ihrem lebendigen Spiel verbindet sie Temperament, Durchsetzungsfähigkeit und Gefühl. Mit ihrem Verständnis für Marias Pläne ist sie vielleicht diejenige mit der größten Toleranz und doch hat ihre Reaktion auf die Demütigungen und Kompromittierungen der Jets fatale Konsequenzen. Gesanglich imponiert sie durchweg mit großer Stimmkraft.
Die Inszenierung der WEST SIDE STORY in Eutin bietet ihrem Publikum bei wundervoller Musik und in fantastischer Kulisse gleichzeitig große Emotionen, Aktualität und Tiefgang. Der überragende Vorverkauf beweist, wie sehr die Eutiner Festspiele den Nerv des Publikums getroffen haben. Noch sind für alle Vorstellungen bis zum 24. August einige Tickets verfügbar.